Jubel für alle: Nicht nur Eleonora Bellocci (Leonora) und Paolo Fanale (Florestano) überzeugen in Innsbruck.

Foto: Brigitte Duftner

Die Innsbrucker Altstadt ist gerade eine große Baustelle. In den meisten Gassen wird gegraben, gebaggert, zugeschüttet und geteert. Drumherum machen es sich die Touristen trotzdem gemütlich. Angenehm ist anders. Aber egal. Auch die Welt ist gerade eine große Baustelle. Alte Verhaltensweisen mussten wegen den Corona-Vorkehrungen quasi abgerissen werden, Ansteckschutzgräben wurden geschaffen, neue Kommunikationswege gebaut. Angenehm ist anders. Aber egal.

Wegen Corona mussten auch die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik umgebaut werden. Manches musste verlegt, weniges abgesagt werden, bei zwei der drei Musiktheaterproduktionen mussten auf szenischem Gebiet Abstriche gemacht werden. Aber egal. Trotz der widrigen Umstände hat man einen tollen Job gemacht.

Nach 152 Tagen der Stille würde nun im Innsbrucker Landestheater endlich wieder Musik erklingen, erklärte die Betriebsdirektorin der Festwochen, Eva-Maria Sens, stolz in ihrer Ansprache zur Eröffnung. Der Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi wies auf die Babyelefanten auf den freien Sitzplätzen hin und mahnte "faire statt prekäre Arbeitsbedingungen" an, "auch im Kulturbereich". Gute Idee.

Mehr Kerker-Action

Danach folgten mit Ferdinando Paërs Oper Leonora drei Stunden der vergleichenden Operngeschichte. Paërs im Oktober 1804 in Dresden uraufgeführtes Fatto storico, sein "historisches Gemälde", fußt auf Jean Nicolas Bouillys Libretto von Pierre Gaveauxs Oper Léonore, ou L’amour conjugal – so wie Beethovens einzige Oper Fidelio, die ein Jahr später im Theater an der Wien uraufgeführt wurde. Im Gegensatz zu Beethoven war der 1771 in Parma geborene Paër allerdings ein Opernprofi, der schon in Venedig und Wien reüssiert hatte (und bald darauf in Paris zu einer der der zentralen Musikgrößen aufsteigen sollte).

Und tatsächlich ist der italienischen Leonora auf dramaturgischem Gebiet Frische und Abwechslungsreichtum zuzuschreiben. Im zweiten Akt gibt es etwa deutlich mehr Kerker-Action: Da tummeln sich neben dem bemitleidenswerten Florestano, seiner ihm angetrauten Befreierin Leonora und dem Kerkermeister Rocco auch der Unterdrücker Don Pizzarro und sogar Roccos Tochter Marcellina länger im Verlies. Letztere ringt Leonora (bzw. Fedele) sogar noch ein Liebesgeständnis vor den Ohren ihres Gatten ab, bevor sie den Minister Don Fernando zu Hilfe holt.

Auf musikalischem Gebiet verlangt Paër nicht nur von den Sängern eine bewegliche Gurgel, auch die Bläser und die Streichersolisten müssen bei den Arien Höchstleistungen bieten – was dem Innsbrucker Festwochenorchester oft, aber nicht immer gelang. Nach einer schmalbrüstig-dürren Ouvertüre steigerte sich der von Festwochenchef Alessandro De Marchi akkurat geleitete, auf der Bühne hinter den Sängern positionierte Klangkörper zu fein dosierter Vitalität. Auf der Bühne leiden speziell die filigran klingenden Oboen, die in den rückwärtigen Gefilden der Bühne akustisch ins Hintertreffen geraten und von den Streichern schnell übertönt werden.

Wie im Himmel

Das Atout der Premiere aber waren die Sänger. Die Spielfreude, mit der die Solisten die von Mariame Clément einstudierten "szenischen Interventionen" umsetzten, ließ nie ein Verlangen nach Bühnenbild und Kostüm aufkommen. Auf vokalem Gebiet agierte Kresimir Spicer als Don Fernando leicht übermotiviert, Carlo Allemano war ein mit allen Wassern gewaschener Pizzarro. Druckvoll und vital Luigi De Donatos Giachino (hier eine Basspartie), Renato Girolami war als Rocco ein idealer, nuancierter Basso cantando.

Erfrischend keck Marie Lys’ Marcellina, energisch und durchsetzungskräftig Eleonora Belloccis Leonora. Als Paolo Fanale (Florestano) mit seinem ersten "Ciel!" den Himmel anrief, wähnte man sich augenblicklich in selbigem. In weiterer Folge beglückte der junge Italiener mit emotional unterfütterter heldischer Kraft, lyrischem Feingefühl und einem Decrescendo auf dem zweigestrichenen C. Wenn Fanale sang, schien die Sonne im Innsbrucker Landestheater, obwohl sie draußen schon längst untergegangen war. Jubel für alle. (Stefan Ender, 9.8.2020)