Mazen Murr muss schmunzeln, als er vom Spott seiner Eltern früher berichtet. "Sie sagten, wir, die nach dem Bürgerkrieg Geborenen, seien die Generation Plastik. Wie recht sie doch hatten." Im schwer getroffenen Beiruter Stadtteil Geitawi, weniger als einen Kilometer entfernt vom Ort der größten und verheerendsten Explosion der Landesgeschichte, flattern Plastikbanner in den Fenstern und Türen – notdürftig, aber wahrscheinlich zumindest für Wochen, bis es wieder ausreichend Glas gibt.

Mazen Murr ist 29 Jahre alt, Architekt und einer der Organisatoren der Nation Station, einer von hunderten Grassroots-Initiativen, die in diesen Tagen den Wiederaufbau der verwundeten libanesischen Hauptstadt in Angriff nehmen. Die Trümmerbrigaden.

Großes menschliches Leid

Beirut, die Metropole, in der noch viele Narben des 15 Jahre andauernden Bürgerkriegs zu sehen waren, ist jetzt in vielen Teilen nur noch Ruine. Der geschätzte Sachschaden nach der Detonation von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen beläuft sich auf zehn bis 15 Milliarden Dollar. An den Straßenrändern türmen sich Trümmer und Scherben. Besonders die prachtvollsten Häuser, die Stadtpaläste aus dem 19. Jahrhundert, sind schwer getroffen. Ingenieure erklären das mit deren vergleichsweise schwächeren Fundamenten und Baustoffen.

Trotz Trauer und Wut kommt die Ironie bei Graffiti-Künstlern nicht zu kurz.
Foto: AFP/Amro

Der Fokus liegt in diesen Tagen aber zunächst auf dem menschlichen Leid: Mindesten 158 Menschen wurden getötet, über 6.000 verletzt. Die Opferzahlen steigen noch immer. Suchtrupps sind noch im Einsatz. Besonders im Hafen forschen auch internationale Experten mit schwerem Gerät und Spürhunden nach Überlebenden. Medien berichteten von einem "Labyrinth von Tunneln" unter den weggeblasenen Lagerhallen.

Rufen nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung der Katastrophe erteilte Staatspräsident Michel Aoun am Sonntag eine Absage: "Zeitverschwendung." Zuvor hatte die Regierung eine nationale, interne Analyse angeordnet, die schon nach vier Tagen Ergebnisse liefern soll. Hafenmitarbeiter wurden verhaftet. Nach Konsequenzen auf politischer Ebene sah es aber zunächst nicht aus.

Überfällige Ankündigung

Doch dann kündigte Premier Hassan Diab am Samstagabend immerhin an, Neuwahlen zu beantragen. Seine Bekanntgabe wirkte für viele Menschen wie überfällig, nach der Explosion, die die Hauptstadt des Landes zur Hälfte zerstörte, nach einer beispiellosen Wirtschaftskrise und der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung in den vergangenen Monaten – und während im Stadtzentrum von Beirut am Samstag Demonstranten von Sicherheitskräften mit Tränengas und teilweise sogar mit scharfer Munition beschossen wurden.

Massive Polizeipräsenz bei den Demos.
Foto: Epa/Mussawir

Das Rote Kreuz und das Islamische Hilfskorps berichteten nach den Ausschreitungen von hunderten zum Teil Schwerverletzten. Auch ein Polizist wurde getötet. Aus Protest gegen die verfehlte Politik der Regierung hatten sich in den vergangenen Tagen immer mehr Mandatsträger zurückgezogen. Der dysfunktionale und nachgerade verbrecherische Regierungsapparat rührt bisher bei der Bewältigung der Katastrophe kaum einen Finger.

Politik und Hilfe

"Wir sind jetzt hier der Staat", ruft Mazens Freund John, ein Jungunternehmer, aus. Er ist ebenfalls Aktivist bei der Nation Station. Hinter der alten Tankstelle, Hauptquartier und Namensgeber der Organisation, werden Bretter zu neuen Türen verschraubt, vorne werden Reisgerichte serviert, Kleider und Hygieneartikel verteilt. Außerdem haben die jungen Aktivisten eine Datenbank aufgebaut und Helfer mit Formularen losgeschickt, um die verbliebenen Bewohner und Schäden im Viertel zu quantifizieren. Auch hier übernehmen sie die Aufgabe einer nicht existenten Verwaltung: des Staates.

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Ein Demonstrant wehrt mit einem Tennisschläger Tränengasgranaten ab.
Foto: Reuters/McKay

Die Initiative der Bürger, der Zusammenhalt und die Solidarität können nicht darüber hinwegtäuschen, dass politischer, struktureller Wandel unbedingt notwendig ist, damit der Zedernstaat irgendwann wieder auf stabile Füße gestellt werden kann, damit die Korruption verschwindet und das Leben im Land wieder sicher und lebenswert wird.

Mouin Jaber sitzt im Camp seiner NGO Minteshreen (der Name bedeutet so viel wie "verteilen") auf einem Parkplatz im Viertel Mar Mikhael, in unmittelbarer Nähe des Hafens. Autowracks stehen neben den Versorgungszelten, die modernen Glastürme daneben sind seit der Druckwelle vom Dienstag entkernt, ausgespült, wie hohle Zähne.

Revolution nach 15 Uhr

"Wir müssen es schaffen, zu helfen und gleichzeitig weiter Druck aufzubauen", sagt Jaber, "deswegen haben wir jetzt einen Plan gemacht: Von acht bis 15 Uhr sind wir hier, danach machen wir Revolution." Der bullige Aktivist zeigt Striemen an seinem Arm: "Von der Halterung meines Schilds." Jaber war am Samstag mit anderen Freunden ganz vorne dabei auf dem Märtyrerplatz, bei der Demo im Stadtzentrum. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von blutenden Demonstranten: "Das waren Gummigeschoße." Auch hätte die Garde der Parlamentswächter Schrotflinten eingesetzt: "Statt unsere Stadt wieder aufzubauen, die sie davor gesprengt haben, beschießen sie uns."

Von der Neuwahlankündigung hält Jaber zu diesem Zeitpunkt herzlich wenig: "Die wollen, dass wir wählen gehen, während wir noch aufräumen und unsere Toten bergen müssen. Wir Oppositionellen, wir Revolutionäre, brauchen aber Zeit, um uns zu finden."

Dann bräuchten sie auch die Hilfe internationaler Beobachter, sagt Mazen Murrs Frau Josephine. Vor allem aber ginge es dann um die Unterstützung und den Zusammenhalt der Menschen: "Wie jetzt gerade in Beirut." (Thore Schröder aus Beirut, 9.8.2020)