Chile: Nach dem Putsch im September 1973 wurden alle Zeichen des linken Aufbruchs vernichtet.

Foto: APA

In die Überzeugungskraft moderner Poesie besaß der chilenische Meistererzähler Roberto Bolaño (1953–2003) ein nicht ganz unerschütterliches Vertrauen. Als sein jugendliches Alter Ego einen "Stuhl aus Araukarienholz" erklimmt, soll dieser Springinsfeld gewissermaßen die Probe aufs Exempel machen: vor einem Bohème-Publikum in aller Frühe ein vertracktes, modernistisches Gedicht vortragen.

Man schreibt den 11. September 1973. Der junge Mann hat glücklich 14 Verse rezitiert, als eine Schreckensnachricht die Runde macht. In Santiago sei ein Armeeputsch im Gange. Der Bann über Chiles Provinzjugend scheint gelöst. Jemand brüllt, der Rhapsode solle den Mund halten; die Gesellschaft stiebt auseinander. Der Jüngling kippt mitsamt dem Stuhl vornüber, rund um ihn wird alles schwarz.

Bolaños früher Tod in Barcelona hat den Nachschub an substanzvollen Texten aus seinem Nachlass bis dato nicht unterbrechen können. Die zitierte Eingangsszene schmückt eine Erzählung, die den Titel "Vaterland" trägt und vermutlich zwischen 1993 und 1995 entstanden ist. Sie bildet zusammen mit "Cowboygräber" und "Komödie vom Schrecken von Frankreich" einen kleinen, faszinierenden Klappaltar.

Buhlen um die Gunst

Das Rätsel Bolaño wird keiner endgültigen Lösung zugeführt. Wiederum erscheinen im Erzählkomplex des Chilenen neue, exzentrische Wunderkammern, mit denen es eine rätselhafte Bewandtnis hat. Aus Roberto Bolaño wird "Arturo Belano". Von Chile anno 68 nach Mexiko-Stadt emigriert, strebt der junge Mann fünf Jahre später zurück in die Heimat. Salvador Allendes sozialistisches Experiment soll seine gebührende Unterstützung erfahren. Doch als weitaus dringlicher erscheint es dem Helden, eine verführerische Striptease-Tänzerin zum Besuch seiner Koje zu überreden.

Bolaños Literatur gleicht einem System aus Leitern: Verlässlich scheint nur, dass dieser wüste Abkömmling von Jorge Luis Borges auf Abwege führt, nach Überwindung zahlloser angesägter Sprossen. Der Pinochet-Putsch von 1973 bildet das finstere, gravitierende Zentrum des Kontinents Bolaño. Rund um dieses "Nichts", in dem freilich alle Hoffnungen auf eine politisch zuträgliche Zukunft verschwanden, errichtete der Exilchilene seine trügerischen Wahn- und Ersatzwelten.

In den beiden Riesenromanen "Die wilden Detektive" und "2666" schickte der Autor gutwillige Jünger der Poesie auf die Jagd. Die Modernisten, geübt darin, den Sinn hinter nur lückenhaft überlieferten Biografien zu entschlüsseln, suchen nach überlebensgroßen Dichtergestalten. Immer unklarer wird im Zuge ihrer Recherchen, ob die Idole ihrer Dechiffriergelüste überhaupt existieren.

Seine eigene Literatur nannte Bolaño 1999, anlässlich einer Preisrede, einen einzigen "Liebesbrief" an seine Generation von jungen Lateinamerikanern. Aber in Wahrheit handelt sein Riesenwerk von spurloser Auflösung: vom Verschwinden nicht nur in den Folterkellern der Militärregime in Chile, Argentinien, El Salvador – es beschreibt die Verwandlung trügerischer Hoffnungen in den Dunst reiner Fiktionalität.

Spuren des Mordens

Und so enthält auch der Band "Cowboygräber" zahlreiche Chiffren der Metamorphose. Immer wieder macht sich Literatur furchtbarer Übertretungen schuldig. Ein Flugzeug aus Beständen der Nazi-Luftwaffe kreist über den Gefängnissen der Pinochet-Killer ("Vaterland"). Der Luftakrobat malt mit Loopings Rauchzeichen in die Luft: Spuren einer Poesie des Mordens. Einer der Inhaftierten weiß im Nu Bescheid: "Er verkündet den Beginn der faschistischen Literatur, Freunde!"

Bei anderer Gelegenheit weist die Kanalisation einen Ausweg. Ein junger Mann in Französisch-Guyana erhält in einer öffentlichen Telefonanlage einen anonymen Anruf aus Paris. Er soll umgehend der "Surrealistischen Liga im Untergrund", kurz: SUG, beitreten. Die Gründung dieser Avantgarde-Vereinigung gehe noch auf Surrealisten-Papst André Breton persönlich zurück; ihre Mitglieder würden von den Witwen surrealistischer Künstler großzügig ausgehalten. Ob Lateinamerikas Dichter heute wirklich in der Kanalisation der Seine-Metropole ihr Dasein fristen? Eine Antwort auf diese Fragen schlummert vielleicht noch auf Bolaños unerschöpflicher Festplatte. (Ronald Pohl, 11.8.2020)