Foto: imago/Mika Volkmann

PRO: Dienst am Kunden

von Sigi Lützow

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass selbst der spielerisch beste, leidenschaftlich vorgetragene Fußball ohne entsprechende Stimmung im Stadion unbefriedigend ist, wäre er spätestens beim Re-Start der Champions League am vergangenen Freitag erbracht worden. Wohl noch nie war ein Duell vom Kaliber Manchester City gegen Real Madrid eine derart matte Sache wie im leeren Etihad Stadium. Fußball ohne Fußballatmosphäre ist nicht einmal für Puristen ein Erlebnis.

Solange der normale Fußballbetrieb eine Illusion bleiben muss, ist es nichts Verwerfliches, sich einer Illusion zu bedienen, um den zahlenden (TV-)Kunden ein Erlebnis zu bieten, das dem Original möglichst nahekommt. Dazu gehört der "Stadion-Sound" – und wenn er vom Band kommt. Der Auftrag des europäischen Verbands für die in dieser Woche beginnenden Finalturniere der Europa- und der Champions League, diesen Sound aus Tonaufnahmen früherer Spiele der involvierten Vereine zu erzeugen, ist ein legitimer Versuch, das bestmögliche Produkt zu liefern. Abdrehen kann jeder selbst.

Fans argwöhnen nun, dass sie auch nach der Pandemie im Stadion verzichtbar sind, also weiter auf die pflegeleichtere Illusion gesetzt wird. Deshalb unter dem Motto "Der Fußball gehört den Menschen" gegen die Atmosphäre vom Band zu protestieren, ist aber unsinnig. Da schätzen die Fußballfreunde ihre eigene, auch kommerzielle Macht viel zu gering ein. (Sigi Lützow, 10.8.2020)

KONTRA: Würdelose Pflanzerei

von Philip Bauer

Man muss nicht alles haben, man kann auch verzichten. Zum Beispiel auf Stadionsound aus der Konserve bei Fernsehübertragungen. Weder Fans noch Atmosphäre lassen sich durch eine lieblos zusammengestückelte Tonspur ersetzen. Die Stimmung bei einem Fußballspiel ist jedes Mal aufs Neue einzigartig. Sie lebt, sie gedeiht, sie verebbt. Und vor allem ist sie so launenhaft wie das Spiel selbst. Manche Nächte sind denkwürdig, andere zum Vergessen. Das Unberechenbare verleiht dem Sport seinen Reiz.

Aber was bleibt von einem Match ohne Fans, ohne Applaus, ohne Gejohle? Alles, was das Spiel in seiner Urform ausmacht. So hat man den Fußball einst im Käfig oder am Schulhof kennengelernt, fernab von Eventkultur und Stadionerlebnis. Man hört, wie der Ball an die Stange klatscht, wie er gestreichelt oder getreten wird. Man hört, wie der Trainer Anweisungen gibt, wie die Spieler kommunizieren. Der eine gibt den Schweiger, der andere den Antreiber. In diesem Hörspiel erfüllt jeder seine Rolle.

In Zeiten der Überinszenierung ist dieses Stegreiftheater eine unverhoffte Abwechslung. Vorgekaute Antworten bekommt das Publikum im Profisport ohnehin genug vorgesetzt. Authentizität ist Trumpf, die eingespielte Geräuschkulisse nur eine würdelose Pflanzerei. Der Fußball lebt, er teilt sich mit. Man sollte ihn nicht zum Schweigen bringen. (Philip Bauer, 10.8.2020)