Spezialpolizisten gehen unter anderem mit Knüppeln gegen Demonstranten vor.

Foto: EPA / Tatyana Zenkovich

Nach der Präsidentenwahl vom Sonntag befindet sich Belarus (Weißrussland) de facto im Ausnahmezustand. Zehntausende Bürger, die nicht an den Wahlsieg von Alexander Lukaschenko mit 80 Prozent der Stimmen glauben, gingen auch am Montagabend wieder auf die Straße. Der Langzeitpräsident setzt auf Polizeigewalt. Indizien dafür, dass sein Regime wanken könnte, gibt es nicht. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat sich unterdessen nach Litauen in Sicherheit gebracht und meldete sich in einer Videobotschaft zu Wort. Laut dem litauischen Außenminister Linas Linkevičius sei sie auf Druck der Behörden in Belarus ausgereist.

Das brutale Vorgehen belarussischer Spezialpolizisten, die in der Nacht auf Montag in der Hauptstadt Minsk neben Knüppeln auch Blendgranaten, Tränengas, Gummigeschoße und Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzten und offiziell mehr als 2.000 Menschen festnahmen, hat die Proteste gegen angebliche Wahlfälschungen nicht verstummen lassen.

Ein Toter bisher

Die Situation war in den späten Abendstunden des Montags unübersichtlich. Über den Messaging-Dienst Telegram verbreitete Bilder und Kurzvideos zeigten Proteste von zumindest tausenden Menschen in Minsk und in zahlreichen weiteren Städten. Zu sehen war auch der Aufmarsch und Einsatz beträchtlicher Polizeikräfte, die sich mit Protestierenden Stellungsscharmützel lieferten. Teils kurzlebige Barrikaden erinnerten an Szenen, die 2013 und 2014 das Bild in der ukrainischen Hauptstadt Kiew geprägt hatten. In zahllosen Videos wurde klar, dass große Teile der Bevölkerung in Belarus mit den Protestierenden sympathisieren.

Die Lage sei ernster als am Tag zuvor gewesen, kommentierte ein Gesprächspartner in Minsk gegenüber der APA die Entwicklungen. Nachdem schon in der Nacht auf Montag über Todesopfer spekuliert worden war, starb in den späten Abendstunden des Montags ein Mann laut Behördenangaben an den Folgen einer Explosion. Erstmals wurden auch Molotowcocktails in Richtung der Polizei geworfen. Zahlreiche Rettungseinsätze ließen eine größere Anzahl an Verletzten befürchten.

Bilder der Proteste vom Sonntag.
DER STANDARD

Tichanowskaja meldet sich per Video

Die belarussische Opposition hatte sich vor dieser weiteren Eskalation weitgehend aus dem Spiel genommen. Tichanowskaja hatte am Montag erklärt, an Demonstrationen einstweilen nicht teilnehmen zu wollen. Nachdem sie am späten Nachmittag im Gebäude der Wahlkommission das Ergebnis offiziell beeinsprucht und eine Neuauszählung gefordert hatte, war sie laut Angaben ihrer Pressesprecherin zunächst stundenlang nicht auffindbar gewesen. Der litauische Außenminister Linkevičius erklärte am Dienstag, dass Tichanowskaja ein einjähriges Visum und eine Unterkunft in Litauen erhält. Auch für ihre Sicherheit werde gesorgt, sie sei mit ihren Kindern zusammen, so Linkevičius.

Am Dienstagvormittag erklärte Tichanowskaja ihre Beweggründe in einer Videobotschaft: "Ich dachte, der Wahlkampf hätte mich abgehärtet und mir die Kraft gegeben, alles durchzustehen. Aber wahrscheinlich bin ich doch die schwache Frau geblieben, die ich zu Beginn war", sagte die zweifache Mutter mit stockender Stimme. Sie habe die schwere Entscheidung zur Ausreise selbstständig getroffen, niemand habe sie beeinflussen können. "Viele werden mich verstehen, mich verurteilen oder hassen. Aber Gott bewahre, dass die je vor so einer Wahl stehen müssen, wie ich es musste."

In einer Videobotschaft rief Tichanowskaja zur Vorsicht auf: "Leute, passt bitte auf euch auf. Kein Leben ist es wert, was jetzt passiert. Kinder sind das Wichtigste im Leben."
Страна для жизни

Tichanowskaja hatte am Vortag noch erklärt, dass sie im Land bleiben werde und weiterkämpfen wolle, hatte sich aber von den Sicherheitskräften massiv bedroht gefühlt. Linkevičius sagte, dass Tichanowskaja mit Inhaftierung gedroht worden war und ihr weißrussicshe Beamte bei der Ausreise halfen.

Weiteres Video womöglich auf Behördendruck

In einem weiteren Video rief Tichanowskaja die Demonstranten auf, zu Hause zu bleiben. Unter Druck der Behörden soll sie Berichten zufolge dieses Video noch vor ihrer Ausreise nach Litauen aufgenommen haben.

"Ich will kein Blut und keine Gewalt", sagte sie in dem Video, das am Dienstag in dem Nachrichtenkanal Telegram veröffentlicht wurde. Dabei liest Tichanowskaja auf einer Couch sitzend eine Botschaft ab und blickt kein einziges Mal in die Kamera. Die Menschen sollten sich nicht der Polizei widersetzen und die Gesetze respektieren, sagte sie. Die Menschen hätten ihre Wahl getroffen.

Bereits vor der Wahl hatte Tichanowskaja ihre Kinder außer Landes bringen lassen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, ein regierungskritischer Blogger, sitzt in Haft. Tichanowskaja war an seiner Stelle bei der Wahl angetreten und hatte als einzige Oppositionelle eine Zulassung als Kandidatin erhalten.

Keine Chance für unabhängige Wahlbeobachter

Indizien sprechen dafür, dass beim offiziellen Ergebnis weniger von einem Auszählungsproblem, sondern eher von einer totalen Fälschung einer großen Anzahl an Wahlzetteln ausgegangen werden muss. In vielen Wahllokalen, so lautet eine verbreitete Vermutung, haben Staatsdiener auf ein gewünschtes Resultat hin gefälscht. Angesichts von vier Tagen, an denen vor dem Sonntag bereits gewählt werden konnte, hätte es für diese Bemühungen auch ausreichend Zeit gegeben.

Dass Präsident Lukaschenko und sein Umfeld vorweg nicht an einen ehrlichen Wahlsieg glaubten, legen aber auch politische Entscheidungen der letzten Monate nahe. Das Land verzichtete darauf, spezialisierte Institutionen wie das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE zur Wahlbeobachtung einzuladen. Die ausländische Beobachtung beschränkte sich auf 184 Vertreter von GUS-Staaten, die die Wahl noch am Montag wie erwartet für legitim erklärten. Weiters kamen 64 in Belarus akkreditierte Diplomaten zum Einsatz – darunter zwei Vertreter Österreichs. Was diese Gruppe getan und beobachtet hat, ist bisher unklar. Aber auch regierungsunabhängige belarussische Wahlbeobachter hatten diesmal kaum eine Chance für eine ernsthafte Beobachtung: In vielen Fällen wurden sie nicht einmal in die Wahllokale vorgelassen.

Keine klar artikulierten Protestziele

Gleichzeitig erteilte das belarussische Außenministerium in den letzten Monaten praktisch keine Akkreditierungen für internationale Journalisten und machte für sie die unabhängige journalistische Wahlbeobachtung somit zum Verwaltungsdelikt, das traditionell zur Abschiebung und einem mehrjährigen Einreiseverbot in Belarus führte. Letzteres führt für nichtrussische Staatsbürger automatisch aber auch zu einem Einreiseverbot in Russland, das Partner in einem gemeinsamen Unionsstaat ist. Gerade vor diesem Hintergrund verzichteten praktisch alle westlichen Redaktionen, Journalisten zur Wahl nach Minsk zu entsenden.

Zumindest in der Nacht auf Dienstag sprach nichts dafür, dass Lukaschenko einlenken und – wie von Demonstranten gefordert – zurücktreten würde. Angesichts des Fehlens von klar artikulierten Zielen seien die Proteste dazu verteilt, mit Gewaltausbrüchen und Straßenschlachten zu Ende zu gehen, kommentierte der belarussische Experte Artjom Schrajbman in einem Fernsehinterview mit Current Time TV.

ÖVP und Grüne verurteilen Vorgehen

International wird derweilen über mögliche Sanktionen beraten. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) drängt die EU zu einer raschen Entscheidung über mögliche Sanktionen. In der Vergangenheit verhängte Strafmaßnahmen gegen Weißrussland seien aufgehoben worden, weil das Land "Schritte in die richtige Richtung" unternommen habe. Es sei zu diskutieren, ob man diese Entscheidung nicht verändern soll, so Maas.

Auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) zeigte sich wegen der Menschenrechtsverletzungen in Belarus enttäuscht. Infolge der Entwicklungen nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl bewerte die EU die Beziehungen zu dem Land neu, betonte er am Dienstag in einer Stellungnahme gegenüber der APA. Er forderte die sofortige Einstellung der Gewalt gegen Demonstranten.

Die außenpolitische Sprecherin der österreichischen Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, nahm laut einer Aussendung vom Dienstag Kontakt mit Tichanowskaja auf, um sie nach Österreich einzuladen: "Wir wollen aus erster Hand erfahren, wie es der Opposition in Weißrussland geht und gemeinsam ausloten, wie auch Österreich zu einer Beruhigung der aufgeheizten Lage und mittelfristig zu einem friedlichen Systemwechsel in Weißrussland beitragen kann". Auch Ernst-Dziedzic appellierte an Lukaschenko, die Gewalt gegen die Demonstrierenden zu unterlassen. (red, APA, 11.8.2020)