Beamte der britischen Grenzpolizei bringen ein aus einem Schlauchboot gerettetes Kind an Land.

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Aufgeschreckt durch immer neue TV-Bildern vom Ärmelkanal will die britische Regierung die Zuwanderung übers Meer nun noch stärker verhindern als bisher. Seine Regierung müsse "das gesamte Gesetzeswerk" überprüfen, um die "dummen und gefährlichen" Überfahrten von Frankreich nach England zu unterbinden, sagte Premierminister Boris Johnson zu Beginn der Woche. Vor allem Menschen aus Syrien und anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens hatten sich in den vergangenen Tagen nach Südengland aufgemacht. Am Dienstag reist nun der für Immigration zuständige Staatssekretär nach Paris und bittet Frankreich um mehr Unterstützung.

Schon bisher verfolgt die konservative britische Regierung eine extrem rigide Asylpolitik. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 bot der damalige Premier David Cameron die Aufnahme von 20.000 Menschen aus Lagern in Syriens Nachbarländern an, während in Mitteleuropa rund eine Million Asylwerber ankamen. Man wolle Flüchtlinge nicht dazu ermutigen, sich kriminellen Schleppern auszuliefern, lautete damals die Argumentation.

Wie im Einkaufswagen auf der Autobahn

Bei herrlichem Sommerwetter und weitgehend ruhigem Wasser stechen derzeit entlang der französischen Küste dutzende völlig überladene Schlauchboote mit Außenbordmotoren in See, um über eine der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt nach England zu gelangen. Erfahrenen Seeleuten zufolge kommt das Vorhaben der Überquerung einer achtspurigen Autobahn zur Hauptverkehrszeit mithilfe eines Supermarkt-Einkaufswagens gleich. An seiner engsten Stelle zwischen Calais und Dover weist der Ärmelkanal eine Breite von 34 Kilometern auf.

Offiziellen Angaben zufolge wurden seit Donnerstag an die 600 Menschen, überwiegend aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, von Booten der Küstenwache gerettet oder an Land gebracht. Die Grenzschutzbehörde hat die Unterstützung der Royal Navy angefordert, seit Montag patrouilliert ein Überwachungsflugzeug der RAF über der Meerenge. Innenministerin Priti Patel informierte sich am Montag in Dover bei den Polizeibehörden. Zuvor hatte sie eine neue Stabsstelle für die "klandestine Bedrohung im Kanal" gegründet; ihr Leiter soll ein früherer Marineoffizier werden, der Erfahrung bei der "Bekämpfung von kleinen Booten" aufweist.

Traumziel Großbritannien

Die Regierung scheint zu schwanken zwischen martialischen Drohgebärden und der Hoffnung auf eine intensivere Zusammenarbeit mit den französischen Behörden. Bei den Gesprächen von Staatssekretär Chris Philp in Paris geht es offenbar auch um finanzielle Hilfe für die nordfranzösischen Ermittlungsbehörden. Die Rede ist von umgerechnet 33,3 Millionen Euro. Erst vor zwei Jahren hatte London dem Nachbarland einen Beitrag von 49,4 Millionen Euro für die Grenzsicherung im Hafen von Calais sowie am dortigen Eingang zum Kanaltunnel Richtung Folkestone zugesagt.

Bei Calais versammeln sich immer wieder tausende Migranten, um nach Großbritannien zu kommen. Mit der Organisation ihrer häufig Monate oder sogar Jahre dauernden Reisen nach Europa verdienen organisierte Schlepperbanden viel Geld. Ausdrücklich lehnen die Flüchtlinge Asyl in Frankreich oder anderen EU-Ländern ab, ihr Traumziel bleibt die Insel: Zum einen sprechen sie die Weltsprache Englisch, zum anderen bieten bereits dort lebende ethnische Minderheiten, zumal im kosmopolitischen London, Schutz und Zugang zu Arbeit.

Der Brexit erschwert die Kontrolle

Die ungeordnete Zuwanderung lieferte schon der Brexit-Kampagne im Referendumskampf 2016 willkommene Munition. Die Kontrolle über die Grenzen zählt seither zu den stets wiederholten angeblichen Wohltaten des EU-Austritts. Allerdings braucht die Insel nach Ablauf der Übergangsfrist zu Neujahr einen Ersatz für die Dubliner Konvention, wonach Asylwerber innerhalb der EU in ihr erstes Ankunftsland zurückgeschickt werden können.

Polizeiexperten drängen zudem auf die Fortsetzung des bisher gemeinsam finanzierten Kampfes gegen Menschenhandel und illegale Einwanderung. Weil London aber jede Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof verweigert, dürfte vom neuen Jahr an der Zugang zu den Daten der europäischen Polizeibehörde Europol höchstens noch begrenzt möglich sein. (Sebastian Borger aus London, 11.8.2020)