Moskau – Der Stolz war dem russischen Präsidenten deutlich anzusehen, auch wenn er versuchte, sachlich zu klingen: "Soweit mir bekannt ist, wurde heute erstmals in der Welt ein Impfstoff gegen die neue Corona-Infektion zugelassen", sagte Wladimir Putin bei einer Onlinesitzung der russischen Regierung.

Er bat Gesundheitsminister Michail Muraschko um die Details, auch wenn er bereits wisse, dass der Impfstoff "ziemlich effektiv ist, eine nachhaltige Immunität aufbaut und – ich wiederhole – alle nötigen Tests durchlaufen hat", fügte der Kreml-Chef hinzu.

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Wladimir Putins Tochter soll bereits eine Corona-Impfung erhalten haben.
Foto: Reuters

Immerhin habe seine Tochter das Serum an sich selbst ausprobiert, verriet er zudem. Nicht völlig frei von Nebenwirkungen: Am ersten Tag habe sie 38 Grad Fieber gehabt, am zweiten erhöhte Temperatur (37 Grad). "Und das war es. Nach der zweiten Impfung hat sich die Temperatur auch etwas erhöht, aber dann ist alles zurückgegangen, sie fühlt sich gut, und die Antikörpertiter sind hoch", so Putin. Den Ausführungen des Staatschefs ist damit auch zu entnehmen, dass vom russischen Impfstoff – so wie voraussichtlich von vielen derzeit im Westen produzierten – zumindest zwei Dosen verabreicht werden müssen, bis er wirkt.

Zahlreiche Fälle, viele Tote

Das Onlineformat der Regierungssitzung verdeutlicht, wie sehr Covid-19 immer noch das öffentliche und politische Leben in Russland unter Kontrolle hat. Am Dienstag wurden mit 4.945 Neuansteckungen erstmals seit Ende April weniger als 5.000 Infizierte pro Tag gemeldet. Als aktiv gelten fast 180.000 Fälle.

Die Opferzahlen steigen zudem unerbittlich weiter. Am Dienstag kamen laut dem Corona-Operationsstab 130 Tote dazu – insgesamt sind es demnach schon über 15.000. Wobei die Statistikbehörde aufgrund einer anderen Zählweise sogar noch deutlich höhere Zahlen ausweist.

Seit Monaten forscht Russland daher wie andere Länder auch eifrig an einem Impfstoff gegen die Pandemie. Und will nun einen Durchbruch geschafft haben. Das nationale Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie, benannt nach dem russisch-sowjetischen Arzt Nikolaj Gamaleja, hat einen Impfstoff entwickelt, der nun von der Gesundheitsbehörde zugelassen wurde.

Testphase nur sehr kurz

Die Zulassung erfolgte sogar noch einen Tag früher als ursprünglich geplant. Medizinisches Personal und ältere Personen sollen die ersten sein, die nach Aussage von Vizegesundheitsminister Oleg Gridnew das Serum bekommen. Die Effizienz des Präparats könne dann später anhand der Ausbildung einer Herdenimmunität überprüft werden, so Gridnew.

Fest steht diese nämlich noch nicht, ganz besonders nicht, was die gefährdete ältere Zielgruppe betrifft. Ebenso wenig ist die Sicherheit erwiesen. Die Zulassung erfolgt offenbar ohne vorherige Durchführung einer Studie in der klinischen Phase 3, in der Wirkung und Risiken einer Impfung üblicherweise an tausenden Probanden erforscht werden. "Meine letzte Information ist, dass sie den Impfstoff mit Daten aus den klinischen Phasen 1 und 2 zulassen", sagt die österreichische Virologin Christina Nicolodi zum STANDARD. Das sei riskant, zumal nur sehr kleine Personengruppen untersucht wurden.

Wirksamkeit und mögliche Nebenwirkungen ließen sich so nicht verlässlich feststellen, so die Expertin: "Ich würde das nicht empfehlen." Nicolodi zufolge ist der Impfstoff, der auf einem Adenovirus basiert, an insgesamt weniger als 80 Teilnehmern untersucht worden. Tests gegen Placebos oder andere Impfstoffe habe es nicht gegeben. Die Probanden seien im Alter zwischen 18 und 60 Jahren gewesen, damit sei die Wirksamkeit gerade bei älteren Menschen, die zur Covid-19-Risikogruppe zählen, fraglich.

Die Weltgesundheitsorganisation erklärte am Dienstag, man stehe in engem Kontakt mit den russischen Gesundheitsbehörden über einen möglichen "Präqualifizierungsprozess" für den Impfstoff, für den eine strenge Überprüfung erforderlich sei.

Ein Impfstoff, der die Welt verändern soll

Die russische Assoziation für klinische Forschungen (Aoki) – zu der auch viele internationale Pharmakonzerne gehören – hat sich unmittelbar vor der Zulassung noch an das Gesundheitsministerium gewandt und gefordert, die Registrierung des Impfstoffs noch zurückzustellen.

Der Wettlauf darum, wer als Erster einen solchen Impfstoff herstelle, sei ein "Relikt des Heldenparadigmas" früherer Zeiten, warnte Aoki. "Die beschleunigte Registrierung macht Russland nicht zum Führenden in diesem Wettlauf, sondern gefährdet nur unnötig die Empfänger des Impfstoffs, die Bürger der Russischen Föderation", heißt es in dem Schreiben.

In der russischen Nomenklatura ruft die weltweite Vorreiterrolle Russlands bei der Entwicklung eines Impfstoffs naturgemäß Nationalstolz hervor. Der Chef des staatlichen russischen Fonds für Direktinvestitionen (RFPI), Kyrill Dmitrijew, verglich den Moment gar mit dem Start des ersten sowjetischen Sputnik. "Die Amerikaner waren erstaunt, als sie das Signal des Sputnik hörten. Genauso ist es mit dem Impfstoff. Russland wird hier Erster sein", hatte Dmitrijew schon vor Tagen stolz prognostiziert.

Kritik? Kommt aus dem Ausland

Angesichts solcher Vergleiche wies das russische Gesundheitsministerium die Kritik der Ärzte auch brüsk zurück. "Es ist offensichtlich, dass Aoki, ohne irgendwelche Ergebnisse zu kennen, hier seine Schlussfolgerungen zieht", bewertete die Vizechefin der Gesundheitsbehörde, Walentina Kosenko, den Einwand der Pharmavereinigung.

Der Abteilungsleiter für die Gütekontrolle bei der Behörde, Sergej Glagoljew, ging noch einen Schritt weiter, indem er den Kritikern unterstellte, als Konkurrenten die Entwicklung behindern zu wollen: "Das ist eine Vereinigung, die vor allem ausländische Pharmakonzerne vereint. Meiner Information nach entwickeln einige von ihnen ihre eigenen Impfstoffe", so der Beamte.

Laut der Gesundheitsbehörde wurden schon hunderte Testpersonen geimpft. Das widerspricht allerdings zumindest den Angaben von Denis Logunow, dem Forschungsdirektor des Forschungszentrums Gamaleja, das den Impfstoff entwickelt hat. Logunow hatte in einem Interview Ende Juli von insgesamt 76 Testpersonen gesprochen, die bislang erfolgreich geimpft worden seien.

Vorarbeiten schon erledigt

Sein Ziel sei es nie gewesen, Erster zu sein, sagte der 43-jährige Mediziner. Er ist aber überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, und liefert eine schlüssige Begründung, warum sein Institut so schnell bei der Entwicklung des Impfstoffs war. "Ich muss erklären, dass wir drei Jahre an einem Impfstoff gegen Mers gearbeitet haben", sagte er.

Dabei sei sein Team zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Vektorimpfstoff am effektivsten sei. Die Ergebnisse seien dann ab Februar auf die Forschungen an einem Covid-Serum übertragen worden. Logunow spricht von "Copy-Paste". Zwei Wochen habe die Entwicklung des Impfstoffs selbst nur gekostet. Anschließend sei die Zeit in Tests investiert worden.

Nach Einschätzung Logunows sind "Abkürzungen" in der Erprobungsphase möglich. Allerdings könne eine Zulassung in dem Fall nur begrenzt sein, um die Untersuchungen auf eine größere Gruppe an Testpersonen – mehrere tausend – auszuweiten. Für den Fall hielt Logunow eine begrenzte Zulassung im September für möglich. Die Zulassung Anfang August dürfte demnach eine politische Entscheidung sein, um nochmals abzukürzen. In gewissem Sinne ist sie aber auch, zumindest noch, wenig tragkräftig: Denn die Produktion des Serums in größerem Stil soll ebenfalls erst im September anlaufen. (André Ballin aus Moskau, David Rennert, 11.8.2020)