Fern der Heimat, in Brasilien, wo der Karneval zu Hause ist: Pierfrancesco Favino als Mafioso.

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Der Gerichtssaal gleicht einem Tollhaus. In über einem Dutzend Käfigen sitzen und stehen die Angeklagten dichtgedrängt und verwandeln das Verfahren in eine Farce: Sie johlen und applaudieren, beleidigen, lassen die Hosen runter, täuschen epileptische Anfälle vor oder beschweren sich weinerlich über die strengen Blicke der Polizisten. Der Richter scheint hilflos.

Ein Kritiker hat über diese zentralen Gerichtsszenen von Marco Bellocchios Il traditore geschrieben, sie wirkten, als habe Federico Fellini eine Folge der Serie Law & Order inszeniert. Allerdings: Was der exaltierten Fantasie des italienischen Regieveterans entsprungen scheint, sind die wohl realistischsten Szenen seines zweieinhalbstündigen Epos über Tommaso Buscetta, das erste hochrangige Mitglied der Mafia, das zum Kronzeugen gegen das organisierte Verbrechen wurde.

Für die Dreharbeiten konnte Bellocchio am Originalschauplatz der sogenannten Maxi-Prozesse der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre drehen, einem extra für diesen Zweck in Palermo gebauten, bunkerartigen Gerichtsgebäude. Über dreihundert Mitglieder der Cosa Nostra wurden dort schließlich zu insgesamt mehr als 2500 Jahren Haft verurteilt. Auf Youtube lassen sich Originalaufnahmen der Prozesse ansehen: Sie belegen, dass Bellocchio in keiner Weise in seinem Film übertreibt. Die Dialoge wurden teilweise wörtlich aus den Gerichtsakten übernommen.

Brutalisiertes Geschäft

Die verblüffenden Gerichtssequenzen bestimmen die zweite Hälfte von Il traditore. Die erste Stunde erzählt, wie es dazu kam, dass Buscetta schließlich vor dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone aussagte. Im Prinzip ist es die bekannte Geschichte von den verfeindeten Clans, der Brutalisierung des Geschäfts durch den Handel mit harten Drogen, dem Widerspruch zwischen der Behauptung, die Mafia sei eine Gesellschaft von "Ehrenmännern", und der Realität massenhaften Mordens.

Buscetta hatte zunächst wenig mit dem sogenannten zweiten Mafiakrieg zu tun, der in den späten 1970ern begann. Er lebte in Brasilien mit seiner von dort stammenden dritten Frau. Doch auch tausende Kilometer von Sizilien entfernt entkam er nicht der Gewalt in seiner Heimat: Seine beiden Söhne aus erster Ehe wurden vom Corleonesi-Clan ermordet, ebenso wie sein Bruder Vincenzo und vier seiner Neffen. 1983 wurde Buscetta verhaftet und von den brasilianischen Behörden im Folgejahr nach Italien abgeschoben. Dort vertraute er sich bald Falcone an, der in Palermo eine Sonderkommission zur Bekämpfung der Mafia mitaufgebaut hatte.

Bild vom Ehrenmann

Bellocchio inszeniert in dieser ersten Stunde vor allem Buscettas Selbstbild als "Ehrenmann", der mit der eskalierenden Gewalt im Mafiakrieg nichts zu tun hatte und sowieso eher an den Frauen interessiert war als an Macht innerhalb der Hierarchie der Clans. Seine Rolle im ersten Mafiakrieg der 1960er-Jahre und im internationalen Drogenhandel findet so gut wie keine Erwähnung. Und in der Interpretation des wunderbaren Pierfrancesco Favino wird der "Boss der zwei Welten", so ein Spitzname, zur sympathisch melancholischen Bulldogge mit mehr Verstand, als sein Äußeres vermuten ließe. Corleonesi-Boss Salvatore Riina wird dagegen in einer Montage mit einer Hyäne gleichgesetzt, seine Untergebenen mit Ratten.

KinoCheck Indie

Es ist ein ungewöhnlicher Spagat, den Bellocchio hier meistert, zwischen dem sachlichen Stil der Gerichtsverhandlungen und dramatisch überhöhten Montagesequenzen, die teilweise unterlegt werden mit Opernmusik. In einer besonders eindrücklichen Folterszene wählt er den schmachtenden Gassenhauer Historia de un amor als Kontrapunkt.

In einem actionreichen Zusammenschnitt von Mafiamorden lässt er einen Todeszähler im Bild mitlaufen. Diese Sequenz könnte aus einem Scorsese-Film stammen. In der reichen Tradition des Mafiafilmgenres wird Il traditore so zu etwas Besonderem: Er verbindet gewissermaßen die italienisch-neorealistische Tradition, die von Francesco Rosis Salvatore Giuliani (1962) bis zu Matteo Garrones Gomorra (2008) reicht, mit den (Gewalt-)Opern Scorseses und Coppolas. Nur sein größtes Vabanquespiel geht am Ende nicht wirklich auf: Buscettas so lange im Film (fast) unwidersprochenes Selbstbild schafft er nicht in einer einzigen schockierenden Schlussszene zu dekonstruieren. (Sven von Reden, 12.8.2020)