Die Explosionskatastrophe im Libanon war ein Wendepunkt für das Land: Eine politische Neuaufstellung, wie sie die Protestbewegung auf den Straßen Beiruts fordert, ist unabdingbar. Das ist der Sukkus fast aller Kommentare zum Thema. Eine Woche nachdem der Hafen von Beirut verwüstet und Teile der libanesischen Hauptstadt beschädigt worden waren, ist nun die glücklose Regierung von Premierminister Hassan Diab zurückgetreten. Ob das jedoch bereits in die Richtung des ersehnten Neuanfangs weist, getraut sich noch kaum jemand zu sagen.

Diab, erst seit einem halben Jahr im Amt, wurde, wie es üblich ist, mit der Fortführung der Geschäfte beauftragt. Seine Idee, in zwei Monaten in Neuwahlen zu gehen, war von Beginn an ein Non-Starter, aus mehreren Gründen: Wahlen, die die gleichen Machtverhältnisse, das gleiche politische System perpetuieren, wollten die Demonstranten und Demonstrantinnen nicht. Aber – und da ist man bei den libanesischen Grundübeln – auch mächtige politische Gruppen haben kein Interesse daran, unter anderem der Mann des Westens und Saudi-Arabiens, der frühere Ministerpräsident Saad Hariri. Zumindest nicht an Wahlen mit diesem Wahlrecht – und dass in nur ein paar Wochen ein Konsens über ein neues zu erreichen gewesen wäre, glaubt wohl niemand.

Die Protestbewegung auf den Straßen Beiruts fordert eine politische Neuaufstellung.
Foto: imago/Maxim Grigoryev

Was geschieht nun? Von einer "französischen Initiative" war die Rede, die zu einer raschen neuen Regierungsbildung führen sollte. Und prompt setzten noch am Tag von Diabs Rücktritt die Diskussionen darüber ein, was Präsident Emmanuel Macron eigentlich gefordert habe: eine Regierung der nationalen Einheit oder eine "neutrale" Regierung.

"Neutrale" Regierung

Zwischen dem einen und dem anderen liegen, so wie es diskutiert wurde, politische libanesische Welten. Eine Regierung der nationalen Einheit, also aller politischen Lager, lehnt die Protestbewegung vehement ab: Sie wäre der politische Normalfall, also so ungefähr das, was der Libanon bis zum Rücktritt Hariris vorigen Herbst hatte. Dass die Demonstranten ihn genauso wenig als Premier zurückhaben wollen wie die derzeitige Hisbollah-Dominanz, machen sie unmissverständlich klar.

Also eine "neutrale" Regierung: Hier lautet die häufigste Interpretation, dass die Hisbollah und ihre Verbündeten – zu denen auch die Partei von Präsident Michel Aoun gehört – ausgebootet werden sollen. Als möglicher Premier wird Nawaf Salam genannt, international angesehener Jurist und Diplomat.

Der jedoch einen – zumindest politischen – Bürgerkrieg erben würde. Die zwei stärksten Lager im Land sind heute einerseits wohl die Protestbewegung, aber andererseits die Hisbollah und ihre gut organisierten Anhänger. Und die Hisbollah ist auch die stärkste militärische Kraft im Libanon und in ein mächtiges, vom Iran gesponnenes regionales Netz eingebunden.

Die Vorstellung, dass Teheran seinen durch die Hisbollah ausgeübten Einfluss im Libanon einfach so fahren lassen könnte, ist naiv. Niemand sollte glauben, dass Donald Trumps "Maximum pressure"-Politik das Regime bereits so angegriffen hat, dass es dazu bereit ist. Je schwächer es zu Hause ist, desto wichtiger ist ihm die sogenannte "Achse des Widerstands" in der Region. Wenn nun das alte System im Libanon zusammenbricht, garantiert das nicht automatisch eine Wende zum Besseren. (Gudrun Harrer, 12.8.2020)