Pommes frites zu jeder Tages- und Nachtzeit – sonst drohen Rocco und Lea-Minou mit der Kündigung ihrer ewigen Liebe.

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Überfüllte Züge, Remmidemmi an den Autobahnraststätten, permanenter Rollkoffer-Sound in heimischen Ferienorten. Zu Recht fragen Sie sich: "Woher das erhöhte Reiseaufkommen? Jetzt, wo der ausländische Tourist wegen Corona weitgehend ausbleibt ..." – Nun, der Sachverhalt ist einfach erklärt: Es sind die Kinder getrennt lebender und divers neu verpartnerter Eltern, die alle drei Tage quer durchs Land chauffiert oder geschickt werden.

Wie kleine, todesmutige Krieger müssen Ronja, Valerian, Sarah-Leonie und Tristan-Elias auf Achse sein. Den ganzen Sommer lang geht es für sie von A nach B, von B nach C, nach einem Zwischenstopp in D zurück nach B, bevor alles wieder von vorn losgeht. Warum? Weil ihre Eltern siebzehn Verpflichtungen zwischen echten und emotionalen Baustellen, ehemaligen und aktuellen Verhältnissen, Haupt- und Nebenjobs unter einen Hut bringen wollen – und sich gleichzeitig als "best dad" und "best mom of the world" einbringen. Um jeden Preis.

"Alles", sagen sich diese neuen Väter und Mütter, "bloß nicht so versagen, so abwesend und dysfunktional wahrgenommen werden wie einst die eigenen Eltern." Dafür sind sie angetreten. Dafür haben sie ihre Liebe mit diesem Wunder der Natur gekrönt. Familienidylle wie in einem ZDF-Hauptabendfilm.

Alles richtig gemacht

Man lässt die Natur entscheiden. Stillt hundert Jahre lang. Die Kleinen dürfen bis zur Volksschule Windeln tragen. Man gefällt sich in Trainingshosen aus nachhaltiger Baumwolle. Verkocht Biogemüse nach Rezepten von Ottolenghi. Alles richtig gemacht! Trotzdem kommt einem, nach und nach, das verdammte Leben dazwischen. Erschöpft fährt man von der Autobahn ab und auf die nächste auf.

Auf keinen Fall will man jetzt dem oder der nervigen Ex zu viel Terrain überlassen. Man kämpft um jeden Ferientag. Organisiert Segelcamps, Schnitzeljagden und Grillabende – mit ständig wechselnden Teilnehmern, versteht sich, denn dieser Fleckerlteppich aus Stiefeltern, Halbgeschwistern und neuen Lebensabschnittspartnern zieht einen Rattenschwanz an weiteren Angehörigen, Beteiligten und Familiensystemen nach sich.

Unendlich viel Macht

Was der Nachwuchs von all den wechselnden Terminen, Plänen, Regeln und Befindlichkeiten der Erwachsenen hält? Egal. Der wichtigste Job der lieben Kleinen ist es, der beste Freund oder die beste Freundin der eigenen Eltern zu sein. Und weil Kinder klug sind, merken sie schnell: Dieser Job verleiht ihnen unendlich viel Macht. Pommes frites zu jeder Tages- und Nachtzeit – sonst drohen Rocco und Lea-Minou mit der Kündigung ihrer ewigen Liebe. Sonst wird im Wirtshaus mit den Fäusten auf den Klinkerboden getrommelt und eine Stunde lang durchgebrüllt.

Ein Freund von mir hat das Dilemma auf den Punkt gebracht: "Früher war ich Punk. Heute schätze ich, sobald es um Kinder geht, ein freundliches, aber konservatives Wertesystem." – "Wie kam es zu dieser Kehrtwende?", fragte ich erschrocken. – "Ganz einfach: Man ist kein reaktionäres Arschloch, bloß weil der eigene Nachwuchs grüßen kann und in geeigneten Momenten Bitte und Danke sagt."

Abgesehen von diesen einfachen Höflichkeitsformeln: Darf man das heute überhaupt noch, nichts tun und sich langweilen? Kein Programm haben? Nicht verreisen oder höchstens einmal von A nach B? Wenn Sie mich fragen, wäre das auch ein Ansatz. (Ela Angerer, RONDO, 14.8.2020)