"Am 18. August ist mein innigst geliebter Gatte verschieden. Sein Wunsch, wie Ihr alle wisst, ist, in Hohenems beerdigt zu sein", so schrieb Angelina Weil aus Santa Monica in Kalifornien zwei Tage nach dem Ableben ihres Ehemanns per Luftpost nach Europa. Der Kreis, der mit seiner Geburt im September 1898 in der Vorarlberger Ortschaft seinen Anfang genommen hat, sollte sich vor 50 Jahren wieder an derselben Stelle schließen.

Harry Weil anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, Chicago 1965.
Foto: Jüdisches Museum Hohenems

Die Flucht eines talentierten Musikers

Harry Romberg Weil kam als jüngstes der vier Kinder von Rachel, geborene Dreyfuss, (1855–1938) und Jakob Weil (1853–1933) am 5. September 1898 in Hohenems zur Welt. Sein Vater verdingte sich nicht nur als Schneider, Metzger und Schächter, sondern übernahm neben seiner Aufgabe als Synagogendiener auch das Amt des Kantors der nur mehr rund 70 Personen umfassenden jüdischen Gemeinde. Die Familie bewohnte das Obergeschoß des direkt neben der Synagoge gelegenen Rabbinerhauses und betrieb darin auch eine kleine Gemischtwarenhandlung. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Harry Weil ab 1916 als Tiroler Kaiserjäger in den Dolomiten und kehrte – nach einer Schussverletzung – verwundet nach Hohenems zurück.

1918 übernahm er die Aufgabe des Organisten und Chorleiters in der Synagoge und war auch, ohne der hebräischen Sprache wirklich mächtig zu sein, als Religionslehrer tätig. Ab 1923 sollte er zudem als ständiges Mitglied den Kultusvorstand ergänzen und darin verschiedene Funktionen bekleiden. Seinem Interesse für Musik konnte er nun auch verstärkt nachgehen, so reichte etwa das Repertoire seiner Hohenemser Schrammelkapelle von der Tanzmusik bis zur Stummfilmbegleitung. Gleiches Engagement zeigte er auch für den 1924 von ihm mitbegründeten Arbeitergesangsverein Nibelungenhort, der bis heute existiert.

Hohenemser Schrammelkapelle zu Fasnacht 1919 – Harry Weil am Kontrabass.
Foto: Jüdisches Museum Hohenems

Beruflich war Weil als Versicherungsmakler tätig und zog wohl 1930 in die Landeshauptstadt Bregenz, wo er zwei Jahre später Angelina Tavonatti (1910–2000) heiratete, die aus einer katholischen Schweizer Familie stammte. Folglich fanden sowohl die Eheschließung als auch die Taufe ihres Sohnes Harry Jr. (1931–2016) nach römisch-katholischem Ritus in Bregenz statt. Nach dem Tod seines Vaters Ende 1933 übernahm Harry Weil dessen Geschäft und wohnte mit seiner jungen Familie auch bald, zumindest teilweise, wieder in seinem Elternhaus. Neben der Musik galt sein Interesse der Politik, und so engagierte er sich im Rahmen sozialdemokratischer und kommunistischer Aktionen, was dazu führte, dass er 1934 wegen seiner Beteiligung an einer antifaschistischen Flugblattaktion verhaftet und zu einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Nachdem zu Beginn des Jahres 1938 auch seine Mutter verstorben war, überschlugen sich die Ereignisse: Die gerade in Auflösung begriffene Wohnung in der Bregenzer Staudachgasse wurde, wenige Tage nach dem "Anschluss," von SS-Männern durchsucht. Zu den geplanten und bereits genehmigten Ausbauarbeiten des Geschäfts im elterlichen Wohnhaus sollte es nicht mehr kommen, da Harry Weil Ende Juni 1938 über die schweizerische Grenze nach St. Gallen flüchten musste. Zuvor half er selbst noch "vielen hunderten von Juden ueber den Rhein in die nahe Schweiz", wie er in einem Brief 1949 berichten sollte. Seinem Bruder Louis (1878–1938), zunächst ebenfalls Fluchthelfer, gelang der rettende Grenzübertritt nicht. Er wurde noch im Juni 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau deportiert, wo er bereits im August ermordet wurde.

Synagoge und Rabbinerhaus, vor 1945.
Foto: Jüdisches Museum Hohenems

Vergebliche Rückkehrversuche

Harry Weils zweiter Bruder Jules (1882–1977) konnte der geflüchteten Weil-Familie schließlich ein Visum vermitteln, worauf diese an Bord der Île de France den Atlantik überquerte und am 19. April 1939 New York erreichte. Harry Weil und seine Familie lebten für kurze Zeit in Pittsburgh, ehe sie sich in Chicago niederließen und von der Unterstützung durch Jules abhängig waren. Ergänzend dazu verrichteten Harry und Angelina zunächst einfache Hilfsarbeiten, bis es ihnen gelang, beruflich und finanziell Fuß zu fassen. Gut fünfeinhalb Jahre nach ihrer Ankunft erhielt das Ehepaar im Dezember 1944 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchte Weil mehrfach die Verbindung nach Österreich. Er bemühte sich um den Export österreichischer Erzeugnisse nach Amerika und übernahm dort bald die Handelsvertretung für den Vorarlberger Käseproduzenten Rupp.

Aber nicht ausschließlich die Geschäftsreisen nach Europa, sondern vor allem die intensive Pflege langjähriger Freundschaften führten ihn immer wieder zurück in seine Heimatgemeinde. Während sein Sohn Harry Jr. ab 1948 bei der US Navy Dienst versah, versuchte Vater Harry ab 1949 den früheren Besitz der Familie sowie jenen der Kultusgemeinde in Hohenems zurückzuerlangen. Die Gemeinde wurde schon 1940 zwangsaufgelöst, die letzten acht verbliebenen Mitglieder hatte man nach Wien zwangsumgesiedelt und in Todeslager deportiert. Harry Weil richtete im Juni 1949 einen Antrag an die Marktgemeinde, in dem er die Rückstellung seiner Wohnung verlangte und angab, dorthin zurückkehren zu wollen. Die Marktgemeinde lehnte das Ansuchen jedoch vehement ab und stellte in einem zynischen Antwortschreiben fest, dass die Familie "freiwillig abgereist" sei und "ihren Wohnsitz nach Amerika verlegt" habe, weshalb es verständlich sei, dass "sie dabei keine alten Mobilien mitgenommen haben".

Glaube, Liebe, Hoffnung

Das Ehepaar Weil blieb also in den Vereinigten Staaten und übersiedelte 1963 nach Santa Monica in Kalifornien. Zwei Jahre darauf, kurz vor Harry Weils 67. Geburtstag, verlieh ihm der österreichische Generalkonsul das Goldene Ehrenzeichen der Republik Österreich für seine Verdienste um die Handelsbeziehungen. Die Verbundenheit mit seinem Herkunftsort hatte trotz der negativen Ereignisse keinen Schaden genommen, und so hielt er bis zu seinem Lebensende den engen Briefkontakt zu seinen alten Bekannten in Hohenems aufrecht. Bereits 1947 drückte er etwa in einem Schreiben aus Chicago mit einer von ihm handschriftlich harmonisierten Version des Liedes "Glaube – Liebe – Hoffnung" (nach Alberik Zwyssig) dem Arbeitergesangsverein seine Treue aus. Die regelmäßige Rückkehr nach Hohenems war Harry Weil zu einer lieben Tradition geworden, wie etwa 1966 mit seiner Frau Angelina, doch die Hoffnung auf eine weitere Reise blieb schließlich unerfüllt.

Angelina und Harry Weil auf Heimatreise in Vorarlberg 1966.
Foto: Jüdisches Museum Hohenems

Im Alter von fast 72 Jahren verstarb Harry Weil am 18. August 1970 im Krankenhaus von Santa Monica an einer Lungenembolie. Die Beisetzung seiner Urne fand in Hohenems im Beisein des Rabbiners von St. Gallen, Lothar Rothschild, und einer großen Zahl an Trauergästen am 4. September statt. Anlässlich des ersten Treffens der Nachkommen jüdischer Familien aus Hohenems, das im August 1998 vom 1991 eröffneten Jüdischen Museum Hohenems durchgeführt wurde, stimmte der Gesangsverein "Nibelungenhort" in Erinnerung an seinen Mitbegründer das Lied "Glaube – Liebe – Hoffnung" erneut an. Raphael Einetter, 18.8.2020)