Christoph Schlingensief, "Kein falsches Wort jetzt. Gespräche". € 23,– / 333 Seiten. Kiwi-Verlag, 2020

Im nächsten Jahr erscheint auch ein "Schlingensief"-Handbuch mit 72 Einträgen zu Person und Werk in der Metzler Handbuch-Reihe, Herausgeber_innen sind Teresa Kovacs, Thomas Wortmann und Peter Scheinpflug.

Diedrich Diederichsen, geb. 1957 in Hamburg, ist deutscher Poptheoretiker und Kulturwissenschafter.

Hier redet Christoph Schlingensief: mit nichtsahnenden Leuten, die von nichtsahnenden Redaktionen geschickt wurden, mit absoluten Spezialist_innen seiner Arbeit, mit gewieften Fachleuten, mit Nerds und mit den Zuständigen für längst vergessene Tageskonflikte. Christoph aber, das zieht sich durch, immer am Kommunizieren. Ohne Pause. Was nicht heißt, dass er immer verstanden wird. Nach einer meiner ersten Begegnungen mit einem öffentlichen auftretenden Christoph Schlingensief fragte ich den Moderator dieser Podiumsdiskussion, ob er die wilden Sprünge in dessen Argumentation verstanden hätte, ob er hätte folgen können. Nicht ad hoc, entgegnete dieser, aber er kenne Christoph, er müsse das Gespräch nur noch transkribieren, dann würde man weitersehen. Bei nächster Gelegenheit eröffnete er mir dann, dass er eine komplexe, einer Partitur ähnelnde Struktur in Schlingensiefs Rede erkannt hätte: Dieser wäre nach einem bestimmten Muster immer wieder zwischen vier wohldefinierten Argumentationssträngen hin und her gesprungen. Würde man die einzelnen Teile voneinander lösen und korrekt sortieren, erhielte man vier gut gebaute und rhetorisch bestechende argumentative Gebilde.

Mein Schlingensief-Bild

Ich weiß nicht, ob ich dieser strukturalistischen Schlingensief-Lektüre damals Glauben schenkte. Auch mein Schlingensief-Bild war in den frühen 1990ern geprägt von dem – in den zeitgenössischen Interviews hier viel von ihm selbst beklagten – Image eines Provokateurs, der, eher unkontrolliert und wie es kommt, mit – wie er sie selbst nennt – "Medienkonstruktionen" um sich wirft und ihnen seine Respektlosigkeit erweist: "Eine Frau, die vom ,Ritz‘ zum ,Ritz‘ und vom ,Ritz‘ zum ,Ritz‘ fährt – und dann ist sie weg, und alle trauern. Ich meine, wie viele Leute gehen von einer Mülltonne zur nächsten, und wenn sie tot umfallen, bemerkt es kein Mensch" (Seite 91 im Buch, Anm.). Für einen Komponisten hätte ich ihn nicht gehalten. Das änderte sich, je mehr Theater ich dann von ihm sah. Auch wenn er weiterhin öffentliche Bilder, in die die Gegenwart viel investiert hatte (verschiedene Bundeskanzler, Fassbinder, Hitler, Dutschke, Neonazis, Petra Kelly), in ungewöhnliche und unangemessene Kontexte zwang, traten formale Eigenschaften zutage, die man nicht anders als musikalisch beschreiben konnte. Wie bewältige ich Material in der Zeit? Nacheinander. Und wie viel Material kann ich parallel führen und wie kann ich das in Echtzeit manipulieren, ohne in dumpfen Hippie-Expressionismus zu verfallen?

Christoph, das zieht sich durch, immer am Kommunizieren. Was nicht heißt, dass er immer verstanden wird.

Damals erinnerte mich auch Thomas Meinecke daran, dass ich diesen Schlingensief, über den alle und ich jetzt auch schreiben würden, schon vor Jahren durch ihn in München kennengelernt hatte, als Mitglied der Band Vier Kaiserlein. Ach der ist das! (Aus der Band ging auch der früh verstorbene Tobias Gruben, Die Erde, hervor, 2005 wurde das um 1982 auf Kassetten zirkulierende Frühwerk zu einem Album zusammengestellt.)

Der Künstler 2006 in Wien, während "Area 7 – Matthäusexpedition" für das Burgtheater.
Foto: Heribert Corn

Nach CHANCE 2000 im Prater, der damaligen Zweitspielstätte der Volksbühne, saßen wir im Sommer 1998 im Restaurant des Prater zusammen und ich nahm die Frage wieder auf. Es waren in diesem Theaterzirkus zwar jedes Wort, jede Geste, jede auftretende Person aus einem anderen Grunde als wegen des Zeitpunktes oder der Dauer ihres Erscheinens auffällig, ob eine Person nun Kunststücke aufführte, sich als "Behinderte" ausgab oder politische Positionen vertrat. Aber dennoch war über all diesen konkreten Informationen ein anderer Eindruck nachhaltiger in meiner Erinnerung geblieben, für den ich zunächst keinen anderen Begriff hatte als Timing. Christoph war ein Jahr zuvor bei unserem "thematischen Wochenende" Loving the Alien in der Volksbühne dabei gewesen – ein Festival zu Afrofuturismus in Bild, Musik und Philosophie. Nun erinnerte er mich daran, indem er auf Timing antwortend zu meiner Überraschung erklärte, dass das dort aufgetretene Sun Ra Arkestra mit seinen großkalibrigen und weitschweifenden freien Orchesterarrangements exakt die Blaupause für seine Organisation von Darsteller_innen-Gruppen in Raum und Zeit sei. Der Anteil an Bewegung, Begegnung, stehender Gruppierung, Auflösung sei von orchestraler Free-Jazz-Musik mindestens ebenso beeinflusst wie von den damals eh schon häufiger und auch von Schlingensief selbst immer wieder genannten Vorbildern aus Fluxus und Performance-Art (Alan Kaprow, Joseph Beuys, Otto Mühl etc.). Überflüssig hinzuzufügen, dass auch einige der Gesprächspartner_innen in diesem Band wie Orchesterteile zum Solo geladen und dann wieder elegant und gut getimt zum Schweigen gebracht werden.

Mich hat überrascht, dass Schlingensief in den hier versammelten Interviews auch schon sehr früh von der Orientierung an Musiktheater spricht, von Opern schwärmt und die Rolle von Filmmusik nicht nur für seinen persönlichen Geschmackshaushalt hervorhebt. Das Interviewerteam von testcard, dem Musikjournal, muss ihn gar nicht besonders gezielt auf Themen von Sound und Musik ansprechen, man ist sehr schnell bei Themen wie Lautstärke als künstlerischem Mittel. Diese Musikalität von Schlingensiefs Arbeit, deren Thematisierung mir gegen Ende der 1990er-Jahre noch eine Überraschung bereitete, wurde aber schon bald darauf ziemlich thematisch und ging weit über die Funktion einer geheimen Quelle der Organisation des ansonsten im Vordergrund stehenden inhaltlichen Materials hinaus. Zahlreiche der späteren Bühnenarbeiten richteten sich direkt nach musikalischen Vorgaben (Wagner, Schönberg, Nono u. v. a.), mehr oder weniger nahe an diesen Vorgaben.

Mir geht es nicht darum, den bekannten Deutungen des künstlerischen Lebenswerkes eine weniger bekannte hinzuzufügen oder gar entgegenzusetzen, um damit einer Fan-Community, die schon alles hat, etwas Neues zu schenken. Ich denke, dass die Rolle des Musikalischen in Schlingensiefs Arbeit mit einem anderen Thema korrespondiert, das in allen Diskussionen immer schon eine große Rolle gespielt hat, der Frage nach Regie und Autorschaft und der damit verbundenen größeren, gewissermaßen theaterwissenschaftlichen Frage, worin diese bei darstellenden Künsten, vor allem bei deren Spielarten, die sich durch ständiges buchstäbliches Überschreiten und Durchschreiten von offenen und geschlossenen Türen definieren, überhaupt besteht. Dass man auch als Zuschauer immer wieder darauf angewiesen war (in einem je verschiedenen Sinn des Wortes), Christoph Schlingensief zu folgen, wäre dabei der Ausgangspunkt zu meinen Überlegungen. Denn auch dieses Buch hat hier einen Ausgangspunkt: als Animierer, Moderator, Antreiber beschreibt sich nicht nur der Interviewte selbst die ganze Zeit. Er führt nicht nur genau dies auch am Objekt, an seinen Gesprächspartner_innen vor.

Es gibt eine vermutlich sogar mathematisch nicht ganz unbegründete Korrelation zwischen der Freiheit der Improvisation – vor allem, wenn diese sich nicht nur auf schnell wechselnde Vorgaben beziehen muss, sondern jeden Genre-Rahmen hinter sich lassen kann und soll, indem sie von Theater zu Agitation, von Realsatire zu Operette sich frei und halsbrecherisch springend bewegt – einerseits und der Akzeptanz der an solchen Improvisationen und Entgrenzungen Beteiligten für das Entstehen von Macht- und Kontrollverhältnissen an anderer Stelle der künstlerischen Systematik andererseits.

Es entsteht ein Charisma-Bedürfnis, als einfacher, wohl eingeführter Gegenpol zur Unübersichtlichkeit. Gesellschaftlich eine fatale Struktur, in künstlerischen Abläufen aber zuweilen nicht nur erlaubt, sondern geboten. Konventionalisiert kennen wir diese für die Organisation und Administration von Spontaneität, für das psychische, dynamische, körperliche, nichtbürokratische und präterzerebrale Elemente zuständige Instanz zum Beispiel in der Figur des Dirigenten.

Der Radikalmoderator

In der Alltags-, Freizeit- und Arbeitskultur der Gegenwart hat eine Fülle von Yogalehrer_innen, Businessgurus, spirituellen Berater_innen, Animateur_innen und Reiseleiter_innen diesen Job in die informellen Niederungen einer weltweiten Kalifornisierung von Selbsttechniken getrieben. Christoph Schlingensief hat die letztere Tendenz erkannt, geahnt und selbst mitgestaltet. Er hat aber als Radikalmoderator und Live-Regisseur auch ganz besonders ausgeprägt an der kritischen Selbstreflexion solcher spielerischer Machtkonzentration gearbeitet. Immer wieder gab es andere, die Schlingensief darstellten, andere, die als Regisseure und Machthaber des theatralen Augenblicks nicht nur auftraten, sondern diese Funktion tatsächlich innehatten.

In den hier gesammelten Gesprächen gibt es viele Stellen, in denen aus dem Gespräch, das sehr oft mehr als ein Dialog ist, selbst eine Art Schlingensief-Stück zu werden scheint.

Die konkrete Bezugnahme auf Fassbinder, Visconti, Helmut Berger, Beuys, Otto Mühl, Kaprow, Wagner, Schönberg, Kippenberger und viele andere (männliche und meist deutsche) Kunstdiktatoren und Charismatyrannen, die Schlingensief immer wieder vorgenommen hat, könnte darauf hindeuten, dass er sich einfach in eine Ahnenreihe stellt. Sosehr da – vor allem zu Beginn seiner Arbeit, als er sich von großen Grenzverletzern ermächtigt fühlte – etwas dran ist, ist doch viel wesentlicher, dass es seit Schlingensief erst möglich geworden ist, den beschriebenen Typus als Struktur zu erkennen: vor allem, indem man ihn nachspielt, rekonstruiert, aber auch dekonstruiert. Es gibt eine Reihe viel diskutierter Zusammenhänge zwischen Avantgarde und Machtfaszination, zwischen Befreiung und Macht, aber die spezifische Struktur, die deutsche (künstlerische) Expansionismen, Entgrenzungen und ihre Reterritorialisierung zur Figur des charismatischen Genies notwendig verknüpft, ist erst von Schlingensief so schlüssig wieder und wieder auf den Punkt gebracht worden, dass sie verfügbar wurde: verfügbar für Kritik und für ihre Verschrottung. Es hat sie seitdem nicht mehr gegeben.

In den hier gesammelten Gesprächen gibt es viele Stellen, in denen aus dem Gespräch – das sehr oft mehr als ein Dialog ist, weil die vermutlich verängstigten Redaktionen gerne zwei Interviewer schicken – selbst eine Art Schlingensief-Stück zu werden scheint. Man kann an den Antworten erkennen, dass der Interviewte nicht nur auf das direkt Gefragte reagiert, sondern, wie es sich für einen Live- und Echtzeit-Regisseur gehört, bestimmte Fragenkomplexe und Diskursmechanismen antizipiert. Er scheint genau das zu tun, was er vor allem in den letzten Lebensjahren und auch bei dem letzten Auftritt, den ich von ihm gesehen habe, Via Intolleranza II nach Nono in Brüssel, zunehmend getan hat: die Rolle des Regisseurs, des Verantwortlichen, der Charismastelle in der Avantgarde-Struktur nicht nur zu übertreiben, zu überbieten, freundlich zu dekonstruieren (und so doch ganz zu lassen), sondern sie zu vervielfältigen – und damit auch aufzulösen. Hier hat Schlingensief dann doch etwas von gewissen kooperativen Theatertraditionen innerhalb der afrikanischen Ästhetik gelernt: das Arbeiten mit Performance-Formaten, die nicht mehr von einem einzigen Anfang ausgehen, die nicht auf der Funktion einer einzigen Autorität basieren, sondern die Kollektivimprovisation durch die Vervielfältigung der Akteure bewältigen. Da waren dann plötzlich ganz viele Christophs oder anderweitig Verantwortliche auf der Bühne. Niemand musste das Ensemble piesacken, provozieren oder loben und motivieren.

Vielleicht wird man eines Tages nicht mehr zwischen Film, Theater, Performance, Jazz und bildender Kunst unterscheiden, sondern nur noch zwischen Delegations-, Motivations-, Animations- und Reflexionskünsten, zwischen der Arbeit mit einer kulturindustriell oder stadttheaterhaft organisierten Arbeitsteilung und neuen Arbeitsteilungen. Schlingensiefs Arbeit beginnt mit Beobachtungen zu Arbeitsstrukturen und zum Seelenleben des Neuen Deutschen Films und arbeitet sich durch Independent-Truppe, Avantgardezirkus, Stadttheater, Festival-Parcours durch ein – sicher nicht immer ganz unproblematisch rekonstruiertes – "Afrika" und einen produktiv ungeduldigen Flirt mit Neue-Musik-Strenge zu einer einzigartigen Virtuosität der Kollektiv- und Delegationskünste durch. Was paradox scheint, wenn man es anhand eines Einzelnen erzählt. Das hat einerseits die technischen Gründe, dass das hier nun mal die Perspektive ist, sozusagen aus technischen Gründen, andererseits gibt es eine seltsame und auch ziemlich erschütternde Dimension an diesem Werk: je mehr es sich von der Idiosynkrasie, Frechheit, Courage, Musikalität dieses Einzelnen per Multiplikation von Idiosynkrasie, Frechheit, Courage und Musikalität entfernt, desto mehr gewinnt es an existenziellem Ernst. Erst in der kollektiven Vervielfältigung, in der Gleichzeitigkeit von vielen gleichberechtigten Soli ist – man kriegt ein Gefühl dafür in den langen und fast bedächtigen Antworten, die er Claus Philipp und Eva Behrendt am Ende des Bandes gibt – auch der existenzielle Ernst des Einzelnen bei sich. Nur im Stimmengewirr geht die Unersetzlichkeit der einzelnen Stimme nicht unter. (15.8.2020)

Der Dok-Film "Knistern der Zeit" erzählt über Schlingensiefs Projekt, ein afrikanisches Operndorf in Burkina Faso zu errichten. Am 20. 8. startet auch der Film "Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien" von Bettina Böhler im Kino. Er porträtiert das Schaffen vom pubertierenden Filmemacher über den Bühnenrevoluzzer bis hin zum anerkannten Staatskünstler in Venedig, der mit nur 49 Jahren an Lungenkrebs starb.
Foto: Aino Laberenz