Irena Eden und Stijn Lernout (Hg.)
"Circle Surface Sun. From Somewhere in the Mediterranean"
€ 24,– / 224 Seiten mit Abbildungen
Schlebrügge Editors, Wien 2020

Jürgen Hosemann
"Das Meer am 31. August"
€ 18,50 / 112 Seiten
Berenberg-Verlag, Berlin 2020

Thomas Käsbohrer
"Auf dem Meer zu Hause. Was mir mein Segeltörn entlang Europas Küsten über das Leben erzählte"
€ 15,50 / 464 Seiten
Penguin- Verlag, München 2020

John Morrissey
"Amalfi – Moderne im Mittelalter"
€ 22,– / 272 Seiten
Mandelbaum-Verlag, Wien 2020

Christian Reder
"Mediterrane Urbanität. Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas"
€ 25,– / 464 Seiten
Mandelbaum-Verlag, Wien 2020

In a Grado. Am Meer. 5.15 Uhr am 31. August. Da ist Jürgen Hosemann bereits seit einer halben Stunde unterwegs. Es ist Ebbe. Das Schwarz des Firmaments dünnt über ihm aus, in seinem Rücken rumpeln zwei Radlader und ein Traktor träg bösartig vor sich hin, die Strandreinigung.

Vom Wasser her brummen die Motoren einiger Fischerboote. Jürgen Hosemann ist am Strand. Dann: ein mittleres Grau, darüber ein helleres Grau, darüber Rosa, Orange, ein Fast-Grün und ein in den Weltraum fliehendes Schwarz. "Die Lichter von Triest wie die glimmenden Reste eines Feuers, das die Nacht über durchgebrannt hat." Er fühlt sich allein, ganz allein, außerhalb der Welt. Und dann ist das Licht da, der Tag.

Hosemann protokolliert 24 Stunden an einem Strandabschnitt in Grado an der Adria, das ihm seltsam steril erscheint, wie eine Opernkulisse. Ein kehrender Nachtportier. Dann die erste Joggerin auf der Strandpromenade. Kurz nach sechs Uhr gehen die Laternen aus. "Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen."

Der Flug der Möwe

Einzig davon handelt das schmale, aufregend ungewöhnliche Buch des Frankfurter Verlagslektors. Sein Programm: Sich einen Tag und eine Nacht ans Meer zu setzen, alles registrieren, auch wenn nichts passiert, nur schauen. Seine Hoffnung: Das Meer trete mit ihm in Verbindung und mit allen anderen Menschen, die zur selben Zeit an seinen Ufern sind, die Leere und Weite lasse Gedanken sich ausbreiten und die Fantasie sich entfalten.

Leute tauchen auf. Mittagshitze. Wolken scheinen das Wort "wolkenlos" am Himmel zu bilden – oder ist er kurz eingeschlafen und träumt? Kinder spielen. 14.50 Uhr: Ein langsames bulliges Motorboot zieht eine Welle von Lärm hinter sich her. Ihm gelingen feine Beobachtungen, schöne Bilder. Die Möwe, die im Flug weiße Kreidestriche auf den Himmel malt. Vier Schläge der Kirchenglocke, so schnell hintereinander, als habe sie Angst, es könne etwas durcheinandergeraten; der dicke Mann, der eine Luftmatratze aufbläst, was ob seiner Korpulenz aussieht, als pumpt das Luftfloß ihn auf; der Nachmittag, so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er nicht merkt, dass der Abend kommt.

Manche haben sich in diesem Sommer doch in Richtung Meer aufgemacht und sind da und dort mit leeren Stränden belohnt worden.
Foto: imago

18 Uhr, die Schirme werden zugeklappt, der Strand ist verlassen. 20.15 Uhr: das Meer eine Brachfläche, eine Lücke, eine "Aussparung in der Wirklichkeit, nichts außer Schweigen."

Hosemann fragt sich: Hat er nun das Meer gesehen? Oder nur aufs Meer gesehen? Er zitiert Wolfgang Hilbig: "Das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist, sondern Zeit." Eine Erkenntnis überfällt ihn: Dass es weit mehr über das Meer zu wissen gibt als das, was er im Lauf dieses eines Tages, des 31. August, herausfindet.

Viel aktiver als der Strand-Augenflaneur Hosemann ist Thomas Käsbohrer. 2014 wurde ihm nach 22 Jahren in leitender Funktion eines Münchner Computerbuchverlags gekündigt. Auf der Stelle realisierte er einen lang gehegten Traum – Monate lang segelnd unterwegs sein. Im Mittelmeer. Davon handelte 2017 sein Buch Die vergessenen Inseln.

Die Schönheit der Welt

Darin kam er, der seither nur knapp die Hälfte eines jeden Jahres am Starnberger See lebt, die andre auf See, von der Ägäis bis Sizilien. Dort legt er nun in Auf dem Meer zu Hause ab, in Sciaccia im Südwesten. Und segelt via Balearen, Gibraltar, die Küste Portugals, durch die Biskaya bis zur Bretagne und kreuzt den Ärmelkanal, um in Hayling Island nahe der südenglischen Hafenstadt Portsmouth seinen Törn zu beenden.

Vier Monate und zwei Wochen ist er unterwegs, allein. Davon erzählt er ausnehmend sympathisch, unterhaltsam, menschenaufgeschlossen – immer wieder macht er neue Bekanntschaften, stößt auf teils skurrile, teils pittoreske Figuren, und auf oft herzliche Gastfreundschaft.

Manchesmal wird es gefährlich. Tatsächlich erfährt er auf dem Wasser Lebenskunst: Entdeckt neue Seiten an sich, neue an anderen, leuchtet Einsamkeit aus und die Schönheit der natürlichen Welt. In seiner kurzen Literaturliste sind einige historische Meeresbücher aufgelistet. Doch Käsbohrer ist ein Mensch, der den Moment genießt, weniger das Gestern.

Von der tiefen Historie des Meeres handelt die Monografie des in Baden lebenden Historikers John Morrissey, der für den Verein zur Förderung von Studien zur interkulturellen Geschichte in Wien bereits einen Band über die Seerepublik Pisa schrieb. Nun beugt er sich über Amalfi, im Mittelalter neben Venedig, Genua und Pisa die kleinste der sogenannten Seerepubliken.

839 wurde die Stadt eigenständig. Der Status als ducato währte knapp 200 Jahre, dann flüchtete sie sich unter die Herrschaft erst der Normannen, dann der Anjou.

Klug erzählt Morrissey von der Multikulturalität des im Mittelalter globalisierten Mittelmeers. Die Stadt an der Costiera amalfitana war Ausgangspunkt weitgespannter Handelsnetze, die Amalfitaner waren gefragte Mediatoren.

Interkulturelle Kontakte

Die Stadt entschlug sich aller militärischen Druck-, Droh- und Einsatzmittel, trat nicht wie Venedig und Genua als streitlustige und ambitionierte hyperexpansive Streitmacht auf.

Vieles wird abgehandelt, von der Topografie über Essen (die Zitronen natürlich) über Entwicklung des Papiers, die Rolle von Pakten und interkultureller Kontakte, die religiösem Kleingeist und den Kreuzzügen zuwiderliefen, bis zu Kunst, Architektur und Sklavenhandel.

Überzeugend demontiert Morrissey auch den Mythos jähen Abstiegs und schlichten Verfalls, der "decadenza amalfitana".Eine informative, gut lesbare Darstellung, mehr als eine Fußnote zur Geschichte des mittelmeerischen Raums. Die Méditerranée, das ist Europa in nuce. Neugierig, expansiv, austauschorientiert, auch Schauplatz von Konflikten, Glaubenskriegen, Zerstörungen, wie von Geben, Nehmen, Akquirieren, Modernisieren, Transformieren, Ort von Abstiegs- und Untergangsgeschichten wie von Erfolgen und neuen Zivilisationen.

Das Licht der Erinnerung

Darüber schreibt Christian Reder, Professor emeritus für Kunst- und Wissenstransfer an der Angewandten, dicht und gelehrt. "Vom Mittelmeer und Schwarzen Meer aus gesehen lassen sich Konturen von Europas Selbstverständnis und Zukunft gedanklich anreichern, ist doch von diesem Raum vieles ausgegangen, was als essenziell europäisch gelten kann, gerade wegen der entwicklungsfähigen Unbestimmtheit zugehöriger Vorstellungen."

Der geografische Bogen reicht von Genua bis Haifa, von Marseille bis Izmir, von Odessa bis Tanger. An Hand der durch die Jahrhunderte hindurch naturgemäß allen Fremden zugewandten Küstenstädte skizziert Reder die Geschichte des Mittelmeers als offener, tiefenhistorischer Raum. Und verleiht strikt tagesgebundenen Berichten über das marenostrum eine gründliche historische Reflexionsdurchlässigkeit.

Originell ist der vielsprachige, illustrierte Band Circle Surface Sun gestaltet: als aufklappbare Broschüre. Mit Beiträgern aus allen Anrainern der Méditerranée, von Algerien bis Israel, von Zypern über Kroatien bis nach Gibraltar.

Aus dem gesamten Kreis also des "Lichts des Mittags" (Albert Camus). Und vom Licht handeln die poetischen, manchmal auch wasserklaren, gelegentlich enigmatischen Beiträge, oszillierend zwischen lyrischem Prosapoem und essayistischer Betrachtung.

Mit Marwa Melhems Text über die Lichter der Erinnerung schließt sich der Wasser-Meeres-Kreis. Die erste Zeile der Syrerin lautet: "Das Licht um fünf Uhr morgens." Da ist Jürgen Hosemann bereits eine Viertelstunde am Meer. (15.8.2020)