Ein schillernd buntes Leben und ein vielschichtiges Werk, von dem lange kaum jemand Notiz nahm: die Beat-Pionierin ruth weiss 1967 in San Francisco.

Archiv ruth weiss

1983 in Mexiko

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2002

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2017 in ihrem Haus

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Die grünen Haare zählten seit den 1950er-Jahren zu ihren Markenzeichen. Und dazu eine tiefe, verrauchte Stimme, mit der sie ihre Gedichte, begleitet von einer Jazzcombo, ins Mikrofon röhrte. Neben ihren Texten war das wichtigste Requisit auf der Bühne ein Kaffeebecher, in dem sie ihr Bier "versteckte".

So auch an jenem Abend im Wiener Jazzlokal Miles Smiles, als ich die damals 84-jährige ruth weiss kennenlernte. Später erzählte sie mir über unzähligen Zigaretten aus ihrem Leben. 1928 geboren, flüchtete sie mit ihren jüdischen Eltern als zehnjähriges Mädchen aus Wien, das, wie sie meinte, "nie ihr Herz verlassen hatte". Diesem Trauma ist unter anderem die konsequente Kleinschreibung ihres Namens als symbolische, gegen (jedwede) Ordnungsmacht gerichtete Geste geschuldet, zumal der Sprache ihrer Herkunft.

Dem Holocaust entkommen, wuchs sie im New Yorker Schwarzenviertel Harlem auf und wurde solcherart früh mit dem Jazz vertraut. 1949 trug sie in Chicago ihre Gedichte als erste neben jammenden Musikern vor und entwickelte so "Jazz & Poetry" als Form der Performance, in der sich Improvisation und spontane Interaktion transmedial entfalten.

Jack Hirschman, Wegbegleiter und San Franciscos poeta laureatus, äußerte sich zu ruths Musikalität: "Viele lesen zu Jazz oder lassen sich beim Schreiben von Jazz inspirieren. ruth aber schreibt Jazz in Worten." Dass sie die Sprache, in der sie dichtete, erst im Alter von zehn Jahren lernte, ermöglichte ihr einen geschärften Blick auf ihr Medium, dem sie verblüffende Wortspiele und Referenzen abzugewinnen vermochte, die in der US-amerikanischen Lyrik sonst nicht zu finden sind.

Per Autostopp quer durch die USA

Nach drei Jahren, per Autostopp quer durch die USA unterwegs und stets eine Schreibmaschine bei sich, landete sie 1952 in San Francisco – kurz bevor Allen Ginsberg dort aufkreuzte und die Beat Generation mit seinem Langgedicht Howl berühmt machen sollte. ruth war mittendrin. Mit dem damals noch unbekannten Jack Kerouac schrieb sie nächtelang gemeinsam Haiku.

Früh am Morgen holte sie Neal Cassady in einem seiner dubiosen "Leihautos" ab, um gemeinsam den Sonnenaufgang auf einem der Hügel San Franciscos zu erleben. ruth trat mit Jazz & Poetry auf, publizierte ihre Lyrik in Bob Kaufmans Zeitschrift Beatitude, brachte ihre ersten vier Gedichtbände zwischen 1958 und 1960 heraus und drehte ein Jahr darauf den inzwischen als Kult-Undergroundfilm gehandelten The Brink.

Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen nahm kaum jemand von ihrem Werk Notiz. Lawrence Ferlinghetti, der Begründer des legendären Verlags City Lights, lehnte ihr erstes Manuskript mit der Begründung ab, dass er keine Frauen publizieren würde. Kerouac und Ferlinghetti schauten sich dafür von ruth die Idee von Jazz & Poetry ab und machten das Genre mit ihren Schallplatten weltberühmt.

Unbeirrt davon schrieb ruth weiter und veröffentlichte über zwanzig Bücher, darunter ihr Hauptwerk Desert Journal (1977), das in 40 Poemen eine Reise in die innere Wüste beschreibt, und Single Out (1978), in dem sie ihre Fluchtgeschichte verarbeitet. Kerouac meinte, sie schreibe viel bessere Haiku als er selbst (nur ein Beispiel: "layer by layer / she peels the onion she is / and laughs with her tears"). aber ruth war auch eine Meisterin des Langgedichts, wie ihre autobiografische Collage i always thought you black (2010) eindrucksvoll beweist.

Gegen Sexismen und Phobien

Sie trat als Schauspielerin gemeinsam mit der Drag-Gruppe The Cockettes in Steven Arnolds Filmen auf, veranstaltete später Varieté-Abende mit der Dragqueen Mona Mandrake, trug Männerkleidung und ihr Haupt gelegentlich auch kahlgeschoren und war, selbst bisexuell, über vierzig Jahre mit dem schwulen Künstler Paul Blake liiert. ruth wehrte sich über Jahrzehnte "gegen die Sexismen und Phobien der US-Populärkultur", wie ihr Saxofonist Rent Romus zusammenfasst.

Bis in die 90er-Jahre waren ein Hotdog und ein Schokoriegel oft die einzige Mahlzeit für einen Tag – und Bier, das ihr in den Bars meist spendiert wurde. Erst gegen Ende des Jahrtausends – ruth war inzwischen mit Paul in ein kleines Dorf an der Küste Nordkaliforniens gezogen – erfuhr die Dichterin allmählich internationale Anerkennung.

1998 kehrte sie zum ersten Mal nach Wien zurück, wo sie Christian Ide Hintze als Mentorin an die Schule für Dichtung einlud. Es folgten Tourneen durch Europa, zahlreiche Übersetzungen und schließlich die Verleihung der Ehrenmedaille der Stadt Wien im Jahr 2006. Ihre Werke wurden u. a. im San Francisco MOMA und im Centre Pompidou ausgestellt.

Zum 40. Jubiläum des "Summer of Love" trat sie vor einem Publikum von Zigtausenden neben Canned Heat im Golden Gate Park von San Francisco auf. 2014 besuchte ich ruth zum ersten Mal in ihrem abgeschiedenen Haus unter riesigen, alten Redwood-Trees, die ihr ein und alles waren. Sie schrieb bis zuletzt auf ihrer alten Schreibmaschine, besaß weder Computer noch Internetzugang.

Ihr TV-Gerät verwendete sie nur, um auf DVDs Spielfilme zu sehen. Bevorzugtes Kommunikationsmittel war das Festnetztelefon. Politisch interessiert blieb sie bis zum Schluss, wie eines ihrer letzten Gedichte, re: election: fact or fiction, zeigt: "DUMP TRUMP / his platform rotting wood / his band plays on / while the timbers crash".

Vollblutkünstlerin

2015 war ich einer von rund 25 Gästen, die sie nach einem Auftritt im Intercontinental Hotel San Franciscos spontan auf ihr Zimmer einlud, wo unzählige Korken knallten und ihre Musiker eine Jamsession anzettelten. Um ein Uhr morgens warf die Security die Gäste der Lady raus, die einst vom San Francisco Chronicle als "Göttin der Beat Generation" tituliert wurde. Ganze Nächte verbrachten wir gemeinsam in San Francisco mit Dichterfreunden wie Tate Swindell, in dessen Küche wir ruths Geschichten lauschten, begleitet von Jazz aus dem Radio.

Wenn jemand als Vollblutkünstlerin bezeichnet werden kann, die ihren Weg entschlossen ging und ihr Leben in vollen Zügen ausschöpfte, dann ist es ruth. Sie verstand es, Menschen zu ermutigen, der eigenen Intuition zu vertrauen – egal ob es sich um jüngere Kollegen und Kolleginnen handelte oder um Schulkinder, für die sie in Kalifornien und Österreich Workshops gab.

Vor drei Wochen habe wir das letzte Mal telefoniert. Sie klang motiviert und bat mich, ihr bei der Textauswahl für ihr neues Buch mit dem Titel Death Becomes Light Is The Bird of Our Love in Elias Schneitters Editon BAES zu helfen. Kurz nach ihrem 92. Geburtstag und vor dem Erscheinen des Bandes ereilte sie ein Schlaganfall.

Nach dem frühen Tod ihres ersten Übersetzers Christian Loidl schrieb weiss 2002: "du bist jetzt dort, wo alles möglich ist". ruth hat gezeigt, dass auch zu Lebzeiten (fast) alles möglich ist, wenn man an sich glaubt, sich nicht beirren lässt. (Thomas Antonic, 14.8.2020)