In der Ferne hört man schon das Rauschen des Zuges. Die Luft ist klar, doch die Temperatur steigt von Minute zu Minute. Klebrige Hitze wird an diesem Augusttag erwartet. Aber noch ist es 7.52 Uhr morgens. Im Gesundheitsministerium fährt die Krisenmaschinerie langsam hoch. Und mit zwei Minuten Verspätung hält der Railjet 823 aus Linz am Bahnsteig 10, Endstation Wien Hauptbahnhof. Rudolf Anschober steigt aus und schaut sich um. Ganz zu Hause fühlt sich der frühere Landespolitiker in der Hauptstadt noch nicht.

8:15 Uhr: Am Schreibtisch sitzt Rudolf Anschober nicht viel. Ein Minister arbeitet selten ungestört alleine.
Foto: Christian Fischer

Anschober trägt ein weißes Hemd, Krawatte und Anzug im selben Blauton. Er hat die grasgrün gesprenkelte Maske auf, die in der Corona-Krise längst zum Markenzeichen des Gesundheitsministers wurde. Er besitzt inzwischen fünf stoffgleiche Modelle. Ein Arzt aus Tirol hatte ihm die erste geschickt. Nachdem er Anschober ständig damit im Fernsehen sah, ließ er ihm weitere vier zukommen. Man soll sie ja waschen und wechseln.

Bei jedem Einatmen schmiegt sich die dünne Schutzmaske an Anschobers Nasenflügel, wenn er spricht, plustert sich der Stoff wieder auf. Er habe sich schon daran gewöhnt, sagt der Minister. "Es ist das neue Normal."

Vorbereitung auf "Phase vier"

Im Gesundheitsministerium rechnet man damit, dass im Herbst "die Herausforderung" wieder größer wird. Gemeint ist damit: Mit Schulbeginn werden sich mehr Menschen mit Corona infizieren als jetzt, womöglich deutlich mehr. Dann beginnt die sogenannte Phase vier. Eins war der Lockdown, zwei die schrittweise Öffnung – in Phase drei befinden wir uns jetzt: unruhige, ungewisse Situation mit regionaler Clusterbildung.

Von einer auf uns zurollenden zweiten Welle möchte im Gesundheitsressort noch niemand sprechen. Wirklich ausschließen könne man diesen Ernstfall allerdings auch nicht. Die Tageswerte schwanken. "Im Wesentlichen liegen wir aber unter unseren eigenen Prognosen", sagt Anschober.

"Mensch des Jahres"

Ins Ministerium fährt er mit der S-Bahn. Heute, nicht immer. Oft lässt er sich von seinem Fahrer am Bahnhof abholen. Anschober lebt in einem Haus "auf dem ersten Hügel vor Linz", wie er sagt. In Wien hat er eine Wohnung für den Notfall. Wenn es irgendwie möglich ist, dann pendelt er.

Eine grasgrüne Maske hat Anschober täglich dabei – er besitzt inzwischen fünf stoffgleiche Modelle. Ein Arzt aus Tirol hatte sie dem Minister nach Ausbruch der Krise zugeschickt.
Foto: APA/HOCHMUTH

Um kurz nach acht sitzt der Gesundheitsminister an seinem Schreibtisch. Parlamentarische Anfragen abzeichnen, ein schneller Espresso. An der gegenüberliegenden Wand hängt gerahmt in Übergröße das Falter-Titelblatts von Dezember 2018. Anschober war damals Coverboy. "Der Mensch des Jahres", titelte die linke Wiener Wochenzeitung. Eine Würdigung, nachdem Anschober als oberösterreichischer Integrationslandesrat die Initiative "Ausbildung statt Abschiebung" gestartet hatte. Sein damaliger Gegenspieler: Sebastian Kurz. Als Kanzler der türkis-blauen Regierung verwehrte er Asylwerbern den Zugang zur Lehre und "zerstörte" damit "ihre letzte verbliebene Integrationsmöglichkeit". So formulierte es Anschober.

Eitelkeit der Wortfindung

Heute spricht er über Kurz weder übermäßig nett noch unfreundlich. In der Corona-Krise hätten er und der Kanzler einander gut ergänzt, findet er: "Ich schlafe gerne noch einmal über Dinge. Kurz ist schnell entschlossen."

Anschober ist nicht eitel, aber er macht sich Gedanken darüber, wie er und vor allem seine Worte wirken. Er will politische Inhalte bildhaft vermitteln. Um 8.30 Uhr wird zum ersten Mal die neue Corona-Kommission zusammentreten. "Das wird der Ort der Krisensteuerung", formuliert es Anschober und setzt nach: "Das Schaltzentrum für die Ampel, bis wir eine Impfung ..." Er wird vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Salzburg calling. "Herr Landeshauptmann, guten Morgen!", ruft Anschober. In der Hochzeit der Krise hat sich das Gesundheitsministerium so gut wie täglich mit den Ländern abgestimmt.

Die Experten und die Politik

Die Corona-Kommission ist ein unübersichtliches Gremium, das bald maßgeblich über Österreichs Zukunft entscheiden wird. Zumindest wenn die Politik – der Letztentscheider – auf sie hört. Die Auftaktveranstaltung findet im Gobelinsaal statt. 38 Personen nehmen teil. Die meisten sitzen mit eineinhalb Metern Abstand im Raum verstreut, einige sind über einen flimmernden Bildschirm zugeschaltet: Vertreter der Ministerien, der Länder, Experten. Sie werden vorgeben, wann die Corona-Ampel von Grün auf Gelb, wann auf Orange oder sogar Rot schalten muss.

10:00 Uhr: Pressekonferenz – es ist Anschobers rund fünfzigster Medientermine seit Ausbruch der Krise.
Foto: APA/Pfarrhofer

Im Gremium wird Vertraulichkeit vereinbart. Arbeitsdokumente dürfen nicht nach außen gegeben werden. Die Kommunikation soll über die Sprecherin funktionieren. Ein Abgesandter aus Wien merkt an, dass die Hauptstadt darauf besteht, als gesamtes bewertet zu werden. Es kann nicht Ottakring orange und Hernals grün sein, findet Wien. Dafür gebe es zu viel Fluktuation zwischen den Bezirken. Eine fixe Zusage bekommt er nicht. "Kritische Aspekte" sollen in der nächsten Sitzung thematisiert werden.

"Echtbetrieb" ab Herbst

Derzeit läuft die Ampelschaltung im Hintergrund. Es ist ein Probelauf. Der "Echtbetrieb" soll am 3. September starten. Ab dann will Anschober jeden Freitag darüber informieren, ob sich etwas getan hat, was die Experten daraus schließen, ob irgendwo die Farbe wechselt – und was das für die Region bedeutet. Derzeit ist das noch nicht klar kommuniziert. Neue Maßnahmen würden nicht erfunden, heißt es in seinem Ressort: Maske, Abstand, Vorsicht. Das Wort "Lockdown" will niemand mehr in den Mund nehmen.

Für 10 Uhr ist eine Pressekonferenz angesetzt. Anschober geht zurück in sein Büro, am Besprechungstisch warten bereits die Corona-Experten zur Abstimmung. Natürlich müsse man operativ auch in die Bezirke Wiens hineinschauen, sagt einer. "Wenn man den Nenner möglichst groß hält, kommt man nie über Grenzwerte." Er meint damit: Die Ampel wird in Wien erst sehr spät gelb oder orange, wenn die Bezugsgröße für jeden Cluster die ganze Metropole ist. "Man muss die Bedenken ernst nehmen", antwortet Anschober.

In der Krise kommt ihm zugute, was ihn sonst etwas blass macht: Er strahlt Ruhe aus. Das zeigt sich sogar körperlich. Anschobers Mimik passiert fast ausschließlich in seiner unteren Gesichtshälfte. Er zieht nie die Augenbrauen hoch, runzelt kaum die Stirn. Wenn er lacht, werden seine Augenfalten nicht tiefer. Die schwarze Brille sitzt immer fest auf seiner Nase. Anschobers Blick ist fokussiert, fast starr. Er schaut die meisten Menschen an, als könne er ihnen damit Trost spenden – und wie jemand, der zuhört.

Kehrseiten der Beliebtheit

14 Uhr: Anschober wird zwar viel fotografiert, professionelle Shootings gehören im Gesundheitsministerium aber nicht zum Alltag.
Foto: Christian Fischer

Seit kurzem ist Anschober auch der beliebteste Politiker Österreichs. Zumindest wenn man Popularitätsrankings glaubt. Im Juli verbannte er Sebastian Kurz auf Platz zwei – der ÖVP-Politiker hatte die Beliebtheitsumfrage der Gratiszeitung Heute davor sieben Jahre lang durchgehend angeführt. Er fürchte deshalb nicht den Zorn der Volkspartei, sagt Anschober. In seinem Kabinett ist man sich da nicht so sicher. Unter Türkisen galt Anschober schon davor als etwas zu ehrgeizig: "Er grätscht gerne rein", heißt es aus dem Umfeld des Kanzlers.

Auf dem Weg zu den wartenden Journalisten im oberen Stockwerk legt Anschober erstmals wieder die Maske an. Mit den Sicherheitsbestimmungen nimmt man es im Gesundheitsministerium auch nicht ernster als in anderen Büros. Mund-Nasen-Schutz, wenn man auf viele Fremde trifft, kein Händeschütteln. Sonst weitgehend Normalbetrieb.

Stiegen steigen, kaltes Wasser

Anschober geht viel zu Fuß. Auch innerhalb des Hauses ist er dafür bekannt, kaum den Lift zu nehmen. Ständig sieht man ihn über die Treppen des Sozial- und Gesundheitsministeriums stapfen. Ob er manchmal noch ehrfürchtig wird in den historischen Hallen? "Eher fürchtig", sagt er.

Zwischen seinen Terminen verschwindet der Minister immer wieder im kleinen Bad neben seinem Büro und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Am Nachmittag trifft er Standesvertreterinnen verschiedener Gesundheitsberufe. Die Logopädin erzählt, dass die Anschaffung von hochwertigen Schutzmaterialien weiterhin schwierig sei. Bei der Beschaffung von Masken gab es immer wieder Probleme: Engpässe, unklare Zuständigkeiten, überteuerte Preise. Auch das Gesundheitsministerium bestellt laufend Schutzausrüstung nach, wenn sie preiswert zu bekommen ist – und wenn Anschobers Leute mit dem Finanzressort einig werden.

14:50 Uhr: zu seinen Terminen geht der Gesundheitsminister, wenn es geht, zu Fuß. Ohne Polizeischutz.
Foto: Christian Fischer

Juristen auf Urlaub

In der Zeile neben "15 Uhr" steht "HVK Strandbar Hermann" in Anschobers Kalender. Das bedeutet: Er trifft dann den "Herrn Vizekanzler" in dem Lokal am Donaukanal. Werner Kogler und er haben einen zweiwöchentlichen Jour fixe. Oft nur telefonisch, diesmal draußen. Anschober marschiert zu Fuß hin, Polizeischutz hat er nie dabei.

Wann ihm aufgefallen ist, dass es in seinem Ressort zu wenige Juristen gibt? "Um ehrlich zu sein, lange nicht", sagt der Gesundheitsminister im Gehen. Zwei Corona-Verordnungen hatte der Verfassungsgerichtshof für gesetzeswidrig befunden. Eine war einfach völlig missverständlich. Anschober gestand "schlechte Arbeit" ein. "Man macht halt, und dann wird es zu viel, aber man macht weiter, weil man glaubt, es geht nicht anders", sagt der Minister. In seinem Kabinett wird betont, dass zwei der besten Juristen im Haus auf Urlaub waren, als der Schlamassel passierte.

Strandmeeting mit Kogler

"Servas", ruft Kogler und winkt. Mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, Jeans und Sonnenbrille sitzt er schon unter einem großen Sonnenschirm und wartet. Anschober und Kogler begrüßen einander mit Ellbogen-Check. Dann holt der Vizekanzler ein Wasser und ein großes Soda-Zitron, und sie besprechen die kommenden zwei Wochen. Auch mit dem Arbeitsministerium, dem Finanzressort und "der Alma" – Justizministerin Zadić – habe Anschober regelmäßig zu tun.

15:00 Uhr: Anschober trifft "HVK" in der Strandbar Hermann am Donaukanal zum Arbeitsgespräch – also den "Herrn Vizekanzler" und Grünen-Chef Werner Kogler.
Foto: Christian Fischer

Am späten Nachmittag konferiert er mit den Gesundheitslandesrätinnen und -räten aller Bundesländer. Es wird moniert, dass die Bezirkshauptmannschaften wegen der Corona-Grenzkontrollen am Limit seien. Auch die Länder beschweren sich über Lieferengpässe bei Schutzausrüstung – und die unklaren Zuständigkeiten. Anschober betont, wie wichtig gute Vorbereitung sei: "Es kann uns ja in drei Wochen erwischen, man weiß es nicht." Er meint die nächste Welle.

Wer bekommt die Impfung?

Auf dem Gang wartet bereits ein Mediziner von Ärzte ohne Grenzen. Anschober hat ihn eingeladen, weil er sich mit Beschaffungsgerechtigkeit auskennt. Das Thema klingt nur beim ersten Hinhören sperrig – und könnte auch bald in Österreich ziemlich relevant werden. Der Arzt war viel in Ebola-Gebieten unterwegs. Er kennt das Problem, wenn Menschen in einer langen Schlange stehen und nur für die Ersten Medizin da ist – oder eben eine Impfung. "Es darf nicht passieren, dass die Geldbörse darüber entscheidet, wer eine Corona-Impfung bekommt", sagt Anschober.

An einem Impfstoff wird weltweit intensiv geforscht. Österreich ist schon jetzt dabei, sich Rechte zu sichern. Aber ob es von Beginn an genug für alle geben wird? Womöglich nicht. "Epidemien sind immer auch politisch", sagt der Arzt. Anschober nickt.

Groß und trotzdem machtlos

Dann kommt der Mediziner auf Anschobers Leibthema zu sprechen: Er berichtet von den Zuständen in Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln. Anschober war vor drei Jahren zuletzt dort. In Moria hätten Tausende keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser, seit ein Lockdown über das Lager verhängt wurde, steige die Gewalt. Man müsse Leute von dort holen, sagt der Arzt. Dringend. Vor allem Corona-Risikopatienten. Anschober weiß, dass das mit der ÖVP nicht passieren wird.

Es gebe so Termine, murmelt er, während er die Stiegen hinunterläuft, die gingen ihm unter die Haut. "Da haben wir ein großes Ministerium, sind Teil der Regierung und trotzdem oft so ohnmächtig." Es ist 19.50 Uhr und klebrig schwül. Er steigt in die S-Bahn. (Katharina Mittelstaedt, 16.8.2020)