Das Beste und Schlechteste von Netflix seit 2012 – sorgfältig, aber rein subjektiv ausgewählt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Grafik: Michaela Köck / STANDARD

Das Motto des Abends lautet "Girls-Night". Sechs junge Damen tanzen und singen auf einer Showbühne, allen voran Moderatorin Palina Rojinski: Spice Girls, Zig-a-zig-ah! Kandidatin Lisa findet das "wundervoll".

"Sie ist eine Granate"

Sie dürfte in der Minderheit bleiben, denn was folgt, ist ein Unterhaltungsformat, für das sich jeder Privatsender zu schade wäre. Sing On heißt die Show und ist von Netflix produziert. Sie ist billig gemacht, es gibt keine Jury, der Applaus kommt vom Band, die Gesangstalente singen Karaoke. Wer am öftesten den richtigen Ton trifft, gewinnt bis zu 30.000 Euro. Ermittelt wird das von einer Maschine. Besonders absurd ist das Voting, das machen die Kandidatinnen auch selbst: "Sie ist so eine Granate, vielleicht ist sie eine Gefahr für mich." Sogar Moderatorin Rojinski wirkt peinlich berührt und greift zu niedrigschwelligen Fragen: "Wie fühlst du dich?" Um es mit Shania Twain zu sagen: That don’t impress me much.

Palina Rojinski moderiert auf Netflix die Deutschland-Ausgabe der Karaokeshow "Sing On".
Netflix

Tiefpunkt im Streaming-TV

Sing On hat gute Chancen, einen der vorderen Plätze im Ranking der schlechtesten Produktionen des Streaminganbieters zu belegen. Gleich neben der spanischen Ausgabe von Sing On übrigens, die es ebenfalls auf Netflix zum Abruf gibt. Die Show markiert einen Tiefpunkt in der Geschichte der Plattform, die einst Leuchttürme der Serienerzählung hervorbrachte: Lilyhammer, House of Cards, Orange Is the New Black, Bloodline, Ozark – Vergleichbares hat man dort in der Dichte schon länger nicht mehr gesehen. Stellt sich die Frage: Wären solche Serien heute noch möglich? Oder anders: Ist Netflix schlechter geworden?

"Serien, die unser Schaubewusstsein erschüttert haben und so prägend für den Hype um Netflix waren, sehe ich leider gerade nicht", sagt die Regisseurin und Marktbeobachterin Sabine Derflinger (Vorstadtweiber, Die Dohnal). Ein Blick auf die Produktionshistorie deutet darauf hin (siehe Timeline rechts – ohne Anspruch auf Vollständigkeit), dass Qualität im Angebot der Abo-plattform einen schwereren Stand hat. Die Mehrheit qualitativ herausragender Serien, die es gleichzeitig schafften, für Gesprächsstoff zu sorgen, entstanden mehrheitlich vor 2017. Seither wächst der Anteil an Dutzendware der Kategorie "more of the same": Auf 13 Reasons Why folgte ein Serienschwall für junge Erwachsene, nach Making a Murderer kamen zig Crime-Dokus, eine unüberschaubare Zahl an Clan-Kriminellen wie Narcos bevölkert das Angebot.

Warum ist das so?

Das hat zunächst mit dem Produktionsvolumen zu tun: Als 2014 Netflix mit seinem Streaming in Österreich startete, gab es genau vier Originalserien und darüber hinaus Lizenzware der allerersten Güte wie Top of the Lake, Die Brücke, The Killing. Ein Netflix-Abo leistete man sich, um dabei zu sein, um mitreden zu können.

Heute stellt Netflix mehr Eigenproduktionen zum Abruf bereit als 2005 die gesamte US-TV-Branche. Besonders in den letzten Jahren ist der Output dramatisch gestiegen. Während 2014 noch 115 Serienstunden produziert wurden, waren es 2015 mehr als doppelt so viele, nämlich 304. 2017 kam die kalifornische Contentschmiede schon auf 1257 Stunden, und selbst dieser Wert hat sich 2019 nahezu verdoppelt: Laut Statista produzierte Netflix rund 2770 Stunden Originalinhalte.

Breitere Angebotspalette

Der Anstieg hängt mit der wachsenden Konkurrenz zusammen. Netflix reagiert im "Streamingkrieg" und pumpt 2020 mit 17,3 Milliarden Dollar deutlich mehr Geld in Eigenproduktionen als alle Mitbewerber wie Disney, Apple, Warner (HBO Max), Comcast (Peacock) zusammen. Bis auf Apple TV+ können diese Dienste zudem auf ein großes Archiv mit beliebten Eigeninhalten zugreifen. Netflix hingegen verlor die Rechte an Dauerbrennern wie Friends und The Office.

In der Dichte entsteht somit ein verzerrtes Bild, wie die Medienforscherin Rosa von Suess erklärt: "Insgesamt ist die Angebotspalette von Netflix wesentlich breiter geworden", sagt von Suess. Aktuell sieht sie etwa vermehrt Nonfiction-Formate in das Programm aufgenommen: "Wenn breitere Zielgruppenschichten angesprochen werden sollen, ergibt das ein breiteres Spektrum von Darstellungsformen und Formaten." Dies impliziere, dass frühen Nutzern von Netflix das heutige Angebot zu breit und dadurch schlechter erscheinen könnte, räumt von Suess ein.

Unüberschaubarer Markt

Tatsache ist: Der Markt ist unüberschaubar geworden und damit beliebiger. "Serienbingen ist, wie wenn du vor dem Kühlschrank stehst und alles in dich hineinstopfst", sagte zuletzt der Regisseur Andreas Prochaska, der inzwischen lieber alte Filme schaut. Durch die Algorithmus-basierte Oberfläche tritt genau das Gegenteil dessen ein, wofür Streaming-TV früher stand: dass man sein Programm selbst zusammenstellen kann. Heute wird man mit einer Auswahl dessen bedient, was vermeintlich am besten zu einem passt, und weil man in dem Überangebot des Suchens überdrüssig geworden ist, nimmt man das, was kommt – so wie früher beim Durchzappen durchs Programm.

Corona-Boom

Dass Corona für einen Streamingboom sorgte, tut nichts zur Sache, das weiß auch Netflix-Boss Reed Hastings. Obwohl allein im ersten Quartal 2020 16 Millionen Neukunden generiert werden konnten und der Streamingdienst mittlerweile bei etwa 194 Millionen Abonnenten steht, erwartet Hastings in der zweiten Jahreshälfte Einbußen und steuert mit höheren Abopreisen – ab sofort auch in Österreich – dagegen. Trendwende? Nicht in Sicht. Zum Trost: Gute Serien gibt es weiterhin auf Netflix, nicht nur dank neuer Staffeln arrivierter Serien wie The Crown und Ozark. Man muss nur mehr suchen. (Doris Priesching, 15.8.2020)

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