In seinem Gastkommentar geht der US-amerikanische Rechtsprofessor Eric Posner der Frage nach, wie der demokratische Herausforderer Joe Biden seinen Wahlkampf anlegen muss, um die Präsidentenwahl gewinnen zu können. Und worauf er aufpassen muss.

Da Joe Biden in den Umfragen vorn liegt, sind viele Demokraten und republikanische Trump-Gegner immer optimistischer, dass US-Präsident Donald Trump die Wahl im November verliert. Es wäre jedoch ein Fehler, ihn bereits abzuschreiben.

Viele Liberale glauben, die Republikaner und Trump zugeneigte unabhängige Wähler könnten zur Vernunft kommen, weil sie sehen, wie der Präsident an der Corona-Pandemie und der darauffolgenden Wirtschaftskrise scheitert. Aber dies könnte zu optimistisch sein. Trump gewann die Wahlen von 2016, indem er seine professionelle und persönliche Untauglichkeit für die Präsidentschaft in eine politische Tugend verwandelte. Dass er sich gegen das Establishment stellte, gab ihm Glaubwürdigkeit unter jenen republikanischen Wählern, die meinten, die politische Mitte ignoriere ihre Interessen.

Gemeinsam gegen US-Präsident Donald Trump: die designierten demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden und Kamala Harris.
AFP

Trump festigte seine Basis, indem er Ängste schürte, das Land werde von Einwanderern überrannt, die die Vorherrschaft der weißen Amerikaner gefährdeten. Er bot sich selbst als Retter an. Das war genug. Und als die illegale Einwanderung immer mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand, suchte Trump nach neuen Wegen, um die Angst der Wähler für sich zu nutzen. Nun glaubt er, sie im Schreckgespenst der städtischen Kriminalität gefunden zu haben.

Trump erwartet, von den chaotischen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Demonstranten in Amerikas großen Städten profitieren zu können. Unabhängig davon, ob die meisten Amerikaner mit der Bewegung Black Lives Matter sympathisieren: Glauben die Wähler, Kriminalität und Chaos seien auf dem Vormarsch und es könne zu Aufständen kommen, könnten ihre Ideale sozialer Gerechtigkeit von ihren Ängsten überschattet werden.

Ängstliche Menschen

Ängstliche Menschen suchen Schutz bei mächtigen, autoritären Gestalten. Und keine Autorität ist stärker als der amtierende Präsident. Die liberalen Medien glauben oder hoffen, dass die Amerikaner Trumps Strategie durchschauen und nicht den Demonstranten die Schuld an der Gewalt geben, sondern ihm. Das könnte sein. Aber Trump folgt dem Beispiel von Richard Nixon, Ronald Reagan und George H. W. Bush, die alle auf dem Weg zur Präsidentschaft Ängste vor städtischer Kriminalität und sozialer Auflösung provozierten oder für sich ausnutzten.

Stellen wir uns vor, es sei Oktober. Die Amerikaner haben Trumps Scheitern an der Pandemie vergessen, die abflaut, weil Impfstoffe auf dem Markt sind oder die soziale Distanzierung endlich eingehalten wird und funktioniert. An Bidens Versprechen, das Gesundheitswesen zu verbessern, Rassenungleichheit zu bekämpfen, Infrastruktur aufzubauen oder Amerikas Verhältnis zu seinen Verbündeten zu reparieren, sind sie nicht besonders interessiert. Sie sorgen sich vielmehr über steigende Kriminalitätsraten, endlose Proteste und das, was sie als Angriff der Linken auf traditionelle Werte und Institutionen sehen. Sie vertrauen Trump, dass er die Kriminalität in den Griff bekommt, und glauben seiner Warnung, "Sleepy Joe" werde ihre Ängste ignorieren.

Linke Demagogie

In diesem Szenario kann Biden unter drei Reaktionsmöglichkeiten wählen: Er könnte mit gutem Beispiel vorangehen und erklären, dass die Kriminalität im historischen Vergleich immer noch niedrig ist. Und er könnte hinzufügen, dass viel mehr Menschen an Trumps stümperhafter Covid-19-Politik gestorben sind, als normalerweise im Jahresdurchschnitt ermordet werden.

Aber gegen einen Demagogen wie Trump ist Ehrlichkeit ein sicherer Weg in die Niederlage. Ängstliche Wähler sind nicht mit besseren statistischen Analysen oder politischen Reformen zufrieden, die die Bedrohung nur indirekt angehen.

Der einfache, aber unehrliche Weg wäre eine Art linke oder gemäßigt linke Demagogie. Hier ist das Ziel nicht, den Ängsten der Menschen vor Kriminalität entgegenzuwirken, sondern diese Ängste in eine andere Richtung umzuleiten. Biden könnte versuchen, Angst vor der Polizei zu schüren – oder vor einem Polizeistaat unter Trumps Führung. Oder er könnte dem Beispiel klassischer Populisten folgen und die Reichen und Konzernchefs als Quelle allen Übels bezeichnen.

Glücklicherweise verfügt Biden über eine bessere Strategie: Er kann Trumps Demagogie selbst zum Thema seines Wahlkampfs machen.

Der letzte große US-Demagoge war Senator Joseph McCarthy, der die US-Politik von 1950 bis 1954 beherrschte. McCarthy gelangte an die Macht, indem er ständig behauptete, die politische Elite sei daran gescheitert, der sowjetischen Bedrohung und dem kommunistischen Einfluss zu begegnen. Ebenso wie Trump baute McCarthy auf einer realen, aber dünnen empirischen Datenlage auf: Immerhin wurden die kommunistischen Bemühungen, die US-Regierung zu untergraben, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beendet. Durch falsche Anschuldigungen schürte er die Ängste der Öffentlichkeit vor der sowjetischen Expansion. Außerdem manipulierte er die Presse, um die Bedrohung hochzuspielen.

Aufstieg und Fall

Aber genau so schnell wie sein Aufstieg kam dann auch McCarthys Fall. Vielleicht hatten die Amerikaner genug von seinen Possen: Keine seiner Anschuldigungen führte zu einer Verurteilung wegen Spionage, was seine Glaubwürdigkeit untergrub. Oder vielleicht hatte er sich durch seinen Angriff auf die US-Armee übernommen, die unter den Amerikanern mehr Vertrauen genoss als seine früheren Opfer, zu denen das Außenministerium und Hollywood gehörten.

McCarthys Schicksal gibt Biden einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht toleriert die Öffentlichkeit keine weiteren vier Jahre Demagogie. Viele Trump-Wähler scheinen die Botschaft verstanden zu haben, dass ihr Kandidat außer Unterhaltungswert wenig zu bieten hat – und sogar dieser wird angesichts der ständigen Wiederholung seiner Masche immer geringer. Als Trump die Armee herausgefordert hat, könnte er sich wie McCarthy übernommen haben: Indem er damit drohte, Militär in US-Städte zu schicken, hat er einen Grundsatz verletzt, der das Militär von der Politik trennt.

Aber Bidens beste Strategie wäre, die Aufmerksamkeit der Wähler darauf zu lenken, wie sie von Trump manipuliert wurden. Ebenso wie McCarthy hat Trump die Spaltungen zwischen den Amerikanern für seine Zwecke ausgenutzt, die öffentliche Debatte mit seinen Lügen und Beleidigungen korrumpiert und wertvolle Institutionen angegriffen. "Haben Sie keinen Anstand, Mr. Trump?", sollte Biden fragen. Diese Frage beantwortet sich von selbst. (Eric Posner, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 15.8.2020)