Foto: AFP/Patrick Baz

Schöne, leicht verfallene Herrenhäuser im osmanischen Stil prägten bis vor kurzem noch das Stadtbild in Gemmayze. Seit dem vierten August erinnert das historische Beiruter Viertel eher an ein Kriegsgebiet. Die Explosion im angrenzenden Hafenareal hat eine dermaßen gewaltige Druckwelle ausgelöst, dass viele der Häuser in sich zusammenfielen und etliche Bewohner unter sich begruben.

Gemmayze galt schon lange als Treffpunkt für jene Menschen, die für die Identitätspolitik im Libanon wenig übrig haben. In dem kleinen Mittelmeerstaat gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, und konfessionelle Postenverteilungen sind durch die Verfassung garantiert. Sie waren auch Teil jenes Friedensabkommens, das 1990 zum Ende des Bürgerkriegs führte und als vorübergehender Garant des Friedens zwischen den Religionsgemeinschaften fungieren sollte. Mittlerweile hat dieses System zur politischen Selbstblockade geführt und dabei ein unglaubliches Maß an Korruption zugelassen.

So stützten sich auch verfeindete Politiker gegenseitig, um sich zu bereichern. Die Staatskassen wurden leergepumpt. Spätestens seit dem 17. Oktober 2019 – als hunderttausende Libanesen eine Protestwelle gegen die Korruption und die sich verschärfende Armut loslösten – blieben auch die Finanzhilfen und Gelder aus dem Ausland aus. So war bald nicht nur der Staat bankrott, sondern auch den Banken fehlte es an Liquidität. Der Wert der eigenen Währung verfiel, und die Banken reduzierten die Ausgabe von US-Dollar: In der Folge schlitterten viele Libanesen in die Armut, und tausende Firmen und Lokale sperrten zu. Etliche verloren ihr gesamtes Erspartes oder können trotz großer Not nicht darauf zugreifen, doch Reformen blieben aus. Wegen dem Corona-Lockdown brodelte die Wut zuletzt nicht auf den Straßen, sondern zuhause. Dann kam die Explosion, und damit die Frage, wofür es sich noch zu kämpfen lohnt. Der STANDARD sprach mit einigen jungen Libanesen über ihre Reaktion:

Es gibt kein Zurück

Moustafa Fahs Familie wanderte 2006 nach Dubai aus, er kehrte nach Schulende zurück. Nun verlässt der Student das Land erneut.

Moustafa Fahs macht einen Neustart mit großer Trauer.
Foto: privat

Der vierte August 2020 ist nicht der erste Tag, an dem ich meine Heimatstadt Beirut in Schutt und Asche sehen musste. Schon 2006, als ich 15 Jahre alt war, wurde unser Haus bei einem israelischen Vergeltungsschlag zerstört. Damals befand sich der Libanon im Krieg mit Israel.

Meine Familie stammt aus dem vorwiegend schiitischen Süden des Landes, doch mit Religion und Kriegsrhetorik hatten meine Eltern nicht viel am Hut. Im Gegenteil: Weil meine Mutter 16 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in ihrer Heimat nach wie vor um das Leben ihrer Liebsten bangen musste, traf sie eine radikale Entscheidung. Sie erkannte, dass es im Libanon kein Leben in Würde geben würde. Gegen meinen Willen packte sie unsere Koffer, und wir starteten ein neues Leben in Dubai.

Ich war damals sehr wütend auf sie. Sie hatte mich meiner geliebten Heimat entrissen, Politik und Religion, für die ich mich damals wenig interessierte, sollten über mein Leben entscheiden. Knapp zwei Jahre später, nach meinem Schulabschluss, kehrte ich allein nach Beirut zurück. Um die horrenden Studiengebühren zu finanzieren, arbeitete ich abends in einer Bar im Gemmayze-Viertel. Das ist einer jener Stadtteile, die direkt an den Hafen angrenzen.

Gemmayze war anders als der Rest des Landes. Dort trafen sich Libanesen aus allen Landesteilen, egal welcher Religion sie angehörten. Ich verliebte mich in dieses Viertel und die postreligiöse Vision, die es repräsentierte.

Zerstörte Träume

Deshalb fing ich an, Touristen durch die wunderschönen alten, leicht verkommenen Gassen zu führen. Aus dem Projekt wurde eine erfolgreiche Firma. Und trotz des alten politischen Systems begann ich von einer Familiengründung in Beirut zu träumen. Als am 17. Oktober 2019 hunderttausende Libanesen auf die Straßen gingen, um gegen die korrupte Elite und damit auch gegen die Anführer der eigenen religiösen Kasten zu demonstrieren, dachte ich, der Traum von Gemmayze habe alle erreicht.

Doch mein Enthusiasmus verebbte, als ich die Gewaltbereitschaft der Polizei und treuer Parteiunterstützer sah. Meine Einnahmen durch die Stadtführungen waren weggebrochen, und auch sonst begann der wirtschaftliche Verfall. Ich bekam einen Masterstudienplatz in Schweden, doch das Bankensystem war so marode, dass ich selbst auf mein Erspartes nicht mehr zugreifen konnte. Meine Familie in Dubai half mir finanziell aus – und so saß ich am 4. August in einem Flugzeug. Als ich um 19 Uhr in Schweden landete, war die Katastrophe im Hafen bereits geschehen – mein Gemmayze einfach vernichtet. Ein unglaublicher Schmerz machte sich in meiner Brust breit. Ich rief meine Mutter an und sagte: "Es tut mir leid, dass ich dir 2006 widersprochen habe, du hattest recht."

Die Verantwortung, zu bleiben

Jean Kassir ist Gründer der unabhängigen Medienplattform Megaphone – und engagiert sich seit Jahren bei Protestaktionen.

Jean Kassir (mi.) hat die Explosion überlebt.
Foto: privat

Ich habe vor zwei Jahren mit Freunden die Medienplattform Megaphone gegründet, die ohne parteipolitische Unterstützung über aktuelle Geschehnisse im Libanon berichtet. Als ich über die Rauchwolke, die ich über dem Beiruter Hafen aufsteigen sah, nichts in den Nachrichten fand, fuhr ich am 4. August kurzerhand hin.

Ich war nur 100 Meter vor der Hafeneinfahrt entfernt, als das gesamte Areal in die Luft flog. Ich kann gar nicht sagen, was in den Minuten nach der Explosion in meinem Kopf vorging. Ich weiß nur noch, dass ich rannte, so schnell ich konnte, und eine panische ältere Frau mit mir aus der Gefahrenzone drängte. Hand in Hand liefen wir weinend durch das angrenzende Gemmayze-Viertel.

Ich wollte mich vergewissern, dass auch meine Freunde und Kollegen im Megaphone-Büro die Detonation überlebt hatten. Es war wie in einem Horrorfilm. Auch für mich stand das nun völlig zerstörte Gemmayze-Viertel für frischen politischen Wind. Sobald der Schock nachgelassen hatte, wusste ich, was zu tun war: Gemeinsam mit befreundeten Aktivisten rief ich zu einem Tag der Trauer und Wut auf – in der Hoffnung, viele würden der Protestaktion folgen.

Erhoffter Systemwechsel

Seit Jahren kämpfe ich im Libanon für politische Reformen – inspiriert von dem Mut junger Araber, die 2011 in der gesamten Region für ein besseres Leben demonstrierten. Unsere Elterngeneration hat die Korruption jahrelang stillschweigend akzeptiert, in dem Glauben, dass sie der Pragmatismus vor einem weiteren Bürgerkrieg schützen würde. Doch Gewalt ist heute im Libanon überall: Die Bereitschaftspolizei geht gewalttätig gegen die Demonstrationen vor, die Ersparnisse der Mittelklasse sind quasi verschwunden, viele Libanesen können sich keinen Zugang zu Ärzten und Krankenhäusern oder nur mehr die wenigsten Grundgüter leisten. Es geht hier nicht um Luxus, es geht ums Überleben.

Der Inbegriff dafür, dass die Eliten ihren politischen Machterhalt über unser Leben stellen, ist die Explosion im Hafen. Wir haben sechs Jahre neben einer tickenden Bombe geschlafen, nicht einmal in den eigenen vier Wänden sind wir mehr sicher. Das Verhalten der politischen Führung kommt einer Kriegserklärung gleich: wir gegen euch. Für mich gibt es kein Leben in Würde hier, solange die gleiche politische Klasse regiert. Ich habe überlebt, es ist nicht die Hoffnung, die mich auf die Straßen treibt, sondern ein Gefühl der Verantwortung. Und deshalb ist es auch keine Option, woanders hinzugehen. Ein Leben im Ausland ist zurzeit für die wenigsten leistbar, und der Staat hat kaum noch Geld, um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu erkaufen. Ich glaube daran, dass sich immer mehr Leute einen Systemwechsel wünschen.

Zeit für Solidarität

Die Architektin Muriel Ferneini hilft beim Wiederaufbau mit. Wenn sich dann nichts ändert, will sie den Libanon verlassen.

Muriel Ferneini wird den Anblick der rosa Wolke nie vergessen.
Foto: Manu Ferneini

Alle Möbel im Wohnzimmer begannen zu zittern, ein Erdbeben, dachte ich. Plötzlich bogen sich die Glasfenster nach innen, ich ging hinter dem Sofa in Deckung. Zum Glück blieben die Scheiben ganz. Das war kein Erdbeben!, sagte ich zu meiner Schwester. Wir stiegen aufs Dach, von dort sahen wir die rosa Wolke über dem Hafen.

Die nächsten zwei Tage verbrachte ich auf den Straßen, um jenen zu helfen, deren Häuser zerstört wurden. Wir klebten Plastik über offene Fenster, ein kläglicher Versuch die Bewohner vor der Luftverschmutzung und Einbrüchen zu schützen. Dann hörten wir, dass die Sucharbeiten in der Nacht unterbrochen wurden, weil es keinen Strom in den Nachbarvierteln des Hafens gab. So desolat ist der Zustand unseres Landes. Ein Freund, der in der Filmbranche tätig ist, stellte nachts Scheinwerfer und Generatoren auf. Seine Erzählungen von menschlichen Überresten und Familien, die nach ihren Vermissten suchen, verfolgen mich, und auch die Enttäuschung, wie schlecht unsere Rettungskräfte vom Staat ausgestattet wurden.

Ich folgte dem Protestaufruf nach der Explosion. Als ich dann sah, dass es den Polizeikräften im Gegensatz zu den Rettern keineswegs an Ressourcen mangelt und sie mit Tränengas auf die Demonstranten reagierten, überkam mich tiefe Wut. Meine Gefühle und die Angst, toxische Gase einzuatmen, lähmten mich.

Die Liebe reicht nicht mehr

Nun bin ich wieder bereit, meine Fähigkeiten den Betroffenen gratis zur Verfügung zu stellen. Ich bin Architektin, und es werden Leute gebraucht, um die Schäden an den Gebäuden zu ermitteln. Wenn danach immer noch die gleichen Köpfe an den politischen Schalthebeln sitzen, dann verlasse ich mein Land endgültig. Ich habe das Glück, in Besitz eines US-Reisepasses zu sein, weil meine Eltern nach dem Bürgerkrieg dort ein neues Leben anfangen wollten. Mein Vater glaubte schon damals nicht mehr an ein gutes Leben im Libanon. Doch das Heimweh war zu groß, wir kamen Ende der 1990er-Jahre trotz der düsteren Aussichten zurück. Nur wenige Jahre später startete dann der Krieg mit Israel: Wir wurden per Schiff von den US-Behörden nach Zypern evakuiert. Die Liebe zum Land hat uns immer wieder zurückgeholt, nun reicht sie nicht mehr.

Das Taif-Abkommen von 1989, das den Bürgerkrieg kurz darauf beendet hat, sollte die Machtverhältnisse nur vorübergehend im Land regeln. Dass auch heute noch in allen führenden politischen Blöcken die gleichen Familien wie schon zu meiner Geburt aktiv sind, zeigt, wie wenig politischen Fortschritt es in unserem Land gab. Und dass manche Leute sogar nach der Explosion dieselben Eliten in Schutz nehmen, hat mir den letzten Funken Hoffnung geraubt. (Flora Mory, 15.8.2020)