Die ganze Straße hüpft, trötet, trommelt und singt "Bibi ciao, ciao, ciao". Es ist der achte Samstagabend in Folge, an dem Premierminister Benjamin "Bibi" Netanjahus Residenz in der Jerusalemer Balfourstraße von Tausenden beschallt wird, und die erweiterte Nachbarschaft gleich dazu. Die Geräuschkulisse gleicht eher einem Fußballderby als einer Kundgebung: Dutzende Megafone auf kleinem Raum, rund um jedes Megafon ein eigener Schlachtgesang. Heute sind so viele Demonstranten gekommen wie nie. Die Polizei hat ihre Absperrung, um die Autos umzuleiten, nach hinten verlegt, um den zuströmenden Massen mehr Platz zu bieten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Seit Wochen demonstrieren Tausende gegen Netanjahu, immer wieder kommt es zu Festnahmen – aber nicht zu jener des Premiers.
Foto: AP Photo/Sebastian Scheiner

Umgrenzende Gebäude werden via Beamer mit Aufschriften wie "Crime Minister" verziert – eine dezente Verletzung der Unschuldsvermutung des Angeklagten Netanjahu, die sich aber mittlerweile schon so stark ins Gedächtnis eingebrannt hat, dass sich nicht einmal mehr der Premierminister selbst daran stößt. Der brandmarkt die Demonstranten ohnehin allesamt als tendenziell destruktive "Anarchisten".

"Tod der Demokratie"

Und so sehen sie aus: Da steht eine Achtzigjährige am Stock, "ich bin schon müde", sagt sie. Und ja, das Virus sei gefährlich, "aber der Tod der Demokratie ist gefährlicher", darum sei sie hier. Neben ihr ein fünfjähriges Mädchen auf den Schultern ihrer Mutter, das Mädchen trägt Tüllrock und Glitzer im Haar und ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Es reicht". Ein Spruch, den man hier oft sieht und hört. Nur was den Menschen reicht, ist durchaus divers.

Manche sind hier, weil sie Jobs verloren haben oder Geschäfte zusperren mussten und den versprochenen Ausgleich von der Regierung nie bekommen haben. Sie sind enttäuscht. Andere konnten nicht enttäuscht werden, weil sie von "Bibi" nie viel erwartet haben. Und wieder andere protestieren gar nicht nur gegen Netanjahu, sondern gegen Besatzung, Rassismus und soziale Ungleichheit.

Wie jene paar hundert Demonstranten, die sich dem "Marsch der Mütter" nach Jerusalem angeschlossen haben. Es ist ein tagelanger Fußmarsch, der vom Norden des Landes quer durch verschiedene arabische Gemeinden führt, und an der Spitze gehen zwei Frauen, deren Söhne dem organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen sind.

"Marsch der Mütter".

Mafiöse Gewalt ist ein massives Problem in israelisch-arabischen Wohngebieten, und die Demonstranten werfen der israelischen Regierung vor, diese Verbrechen zu ignorieren, ja sogar zu fördern. Durch das Zerschlagen jüdischer Mafiabosse, ohne zugleich gegen ihre arabischen Handlanger vorzugehen, habe man das Problem nur in die arabischen Gegenden verschoben – und liefere die dortige Bevölkerung den Clans ungeschützt aus.

Letztlich fordere diese Gewalt aber auch unter jüdischen Israelis Opfer, sagt Ayman Odeh, Chef der israelisch-arabischen Parlamentspartei "Vereinigte Liste". "Das ist ein Thema, das alle angeht."

Gräben überwinden

Ayman Odehs Name ziert auch ein Transparent auf der Jerusalemer Großdemo. "Normalisiert die Beziehung zu Ayman Odeh", steht darauf, mit beigefügtem Herzchen. Es ist eine Anspielung auf das jüngste Übereinkommen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, das eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den verfeindeten Staaten bringen soll. Die Botschaft der Demonstrantin: Es reicht nicht, Frieden mit arabischen Staaten zu schließen. Auch in Israel selbst müssen Gräben überwunden werden.

Dem Protest haben sich auch Spitalsärzte angeschlossen. In Kitteln stehen sie hier, und auf ihrer Tafel steht: "Tagsüber bekämpfen wir das Coronavirus. Und nachts die Korruption." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 16.8.2020)