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Die Proteste gegen Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko haben Ausmaße erreicht, die im autoritär regierten Belarus bisher unbekannt waren.

Foto: AP / Sergei Grits

Diesmal ist alles anders. Zwar gab es in Belarus (Weißrussland) auch früher schon Proteste gegen den autoritär regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko, zuletzt etwa nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2010. Doch das aktuelle Aufbegehren gegen den Langzeitmachthaber, der seit 26 Jahren im Amt ist und auch die Wahl vor einer Woche mit mehr als 80 Prozent Zustimmung gewonnen haben will, hat eine neue Qualität erreicht.

Nach den Massenprotesten der vergangenen Tage versammelten sich am Sonntag in der Hauptstadt Minsk erneut zehntausende Menschen. Auf ihrem "Marsch der Freiheit" forderten sie ein Ende der Gewalt gegen friedliche Demonstranten, die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie Neuwahlen. Gleichzeitig sucht der in Bedrängnis geratene Lukaschenko Unterstützung aus Moskau. Nach einem Telefonat sicherte ihm sein russischer Amtskollege Wladimir Putin diese schließlich zu: Man sei im Rahmen des mit dem Nachbarland bestehenden Militärabkommens zu Hilfe bereit, hieß es am Sonntag aus dem russischen Präsidialamt.

Breite Politisierung

"Eine derart breite Politisierung der belarussischen Gesellschaft gab es bisher noch nie", erklärte die in Berlin lebende Politikwissenschafterin Olga Dryndova im Gespräch mit dem STANDARD. Zum einen hätten sich die Proteste gegen Lukaschenko früher auf Minsk beschränkt, dies sei nun nicht mehr der Fall. Zudem seien frühere Oppositionsbewegungen von einer eher kleinen Gruppe politikinteressierter Menschen mit Kontakten zur Zivilgesellschaft getragen worden, jetzt würden erstmals größere Teile der Bevölkerung die Stimme erheben.

Ausschlaggebend für das Erwachen aus der oft zitierten politischen Apathie im Land sei auch Lukaschenkos Verhalten in der Corona-Krise gewesen: "Schon im März, als der Präsident von einer ‚Psychose‘ sprach und Verstorbenen mit Hinweis auf ihre Vorerkrankungen quasi eine Mitschuld am eigenen Tod gab, verursachte das eine große Wut bei vielen Menschen", erinnert sich die 33-Jährige. "Schon damals wurde klar, dass die Gesellschaft sich verändert."

In der Tat: Alexander Lukaschenko scheint derzeit ziemlich planlos durch die Krise zu torkeln. Zunächst hatte das Regime mit voller Härte auf die Proteste reagiert. Im Zuge der Demonstrationen sind bereits mindestens zwei Menschen ums Leben gekommen. Die Wut wurde auch durch die Berichte freigelassener Demonstranten angeheizt, die von schweren Misshandlungen in der Haft erzählten.

Streikdrohungen in Staatsbetrieben

All das habe zu einer "beispiellosen Welle der Solidarität in der Bevölkerung geführt", erklärt Dryndova – auch in vielen Staatsbetrieben, in denen bereits Streikdrohungen laut wurden. "Es gab ja über 7000 Verhaftete. Da kann man sich vorstellen, wie viele Familien, Freunde und Bekannte da betroffen sind. In jedem Unternehmen gibt es jetzt wahrscheinlich Menschen, die auf ihre Weise darunter gelitten haben."

Zwar haben die Sicherheitskräfte die Gewalt bei ihren Einsätzen gegen Demonstranten mittlerweile zurückgeschraubt. Präsident Lukaschenko selbst jedoch reagiert zunehmend nervös. Bereits im Vorfeld der Wahl waren mehrere oppositionelle Bewerber an einer Kandidatur gehindert oder gar verhaftet worden. Daraufhin sprang Swetlana Tichanowskaja, die politisch völlig unerfahrene Frau eines der Inhaftierten, als Kandidatin ein und wurde quasi über Nacht zur Galionsfigur der Opposition. Laut offiziellem Wahlergebnis, das auch international massiv angezweifelt wird, erhielt sie weniger als zehn Prozent der Stimmen – einige Tage später meldete sie sich, sichtlich eingeschüchtert, aus Litauen zu Wort.

"Befehl" aus dem Ausland

Die Opposition setzt ihre Kundgebungen jedoch auch ohne Tichanowskaja fort und macht mit ihrer dezentralen Organisation den Behörden das Leben schwer. Mittlerweile gibt Lukaschenko auch ausländischen Kräften die Schuld am Erstarken der Proteste.

"Litauen, Polen und die Ukraine befehlen uns, Neuwahlen abzuhalten", sagte er am Sonntag in Minsk auf einer Kundgebung vor Anhängern, die aus allen Landesteilen in die Hauptstadt gebracht worden waren, und wies den Vorwurf der Wahlfälschung zurück. Der Nato warf er einen Truppenaufmarsch an der Westgrenze seines Landes vor, was diese umgehend zurückwies. Lukaschenko kündigte auch an, im Westen Panzer und Flugzeuge in Stellung zu bringen.

Riskantes Spiel für Putin

Was sein zuletzt angeschlagenes Verhältnis zu Russland betrifft, dem Lukaschenko noch kurz vor der Wahl ebenfalls Einmischung in innere Angelegenheiten vorgeworfen hatte, so hat sich sein Kurs zuletzt jedoch geändert, wie aus der Ankündigung möglicher militärischer Schützenhilfe aus Moskau hervorgeht.

Olga Dryndova hält ein militärisches Eingreifen Moskaus dennoch nicht für wahrscheinlich. Anders als bei der Maidan-Revolution 2013/14 in der Ukraine gibt es in Belarus kaum antirussische Stimmungen. Die Protestbewegung richtet sich nicht gegen geopolitischen Einfluss aus Moskau, sondern gegen den eigenen Staatschef. Das Russland-freundliche Potenzial in der belarussischen Gesellschaft werde Putin wohl kaum aufs Spiel setzen, so Dryndova: "Putin hat eigentlich keinen Grund, einen Präsidenten zu unterstützen, der im eigenen Land offensichtlich keine Legitimität mehr hat." (Gerald Schubert, 16.8.2020)