In seinem Gastkommentar im STANDARD führt SPÖ-Altkanzler Christian Kern aus, was ihm an der aktuellen Kanzlerpartei ein gewisses Unbehagen bereitet. Aus seiner Perspektive gerät alles was ein Gemeinwesen zusammenhält, wie Werte, Prinzipien und Haltungen ins Rutschen, wenn dem Zweck des Machterhalts alles andere untergeordnet wird. Eine durchaus liebliche Formulierung. In diesem Kontext könnte die Frage aufkommen, ob dies unter SPÖ-Regierungsbeteiligung so viel anders war. Es klingt beinahe, als wäre Kern der letzte Kanzler mit gewissen ethisch-moralischen Prinzipien gewesen, während sein Nachfolger ebenjene im Sinne der Machtgier vollkommen über Bord wirft. Eine dermaßen einfache Dichotomie ist eher unwahrscheinlich und könnte ein Resultat eines nicht wirklich aufgearbeiteten Beziehungskonfliktes sein.

Neurotische Beziehungskonstellation

Zwischen den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen bestand schon seit längerer Zeit ein gewissermaßen neurotisches Beziehungsmuster. In der Psychologie wird ein derartiges, wenig reflektiertes, oft unbewusstes und meist von den zusammenwirkenden Akteuren selbst weitgehend uneingestandenes Interaktionsmuster als Kollusion bezeichnet. Für Außenstehende wirkt ein solches nur oberflächlich abgestimmtes Zusammenspiel häufig fragwürdig und wirkt sich in Folge auf die Beteiligten oftmals nachteilig aus. Das “kollusive“ Verhalten schadet auf längere Sicht den Partnern, indem es sich mehr und mehr als ein falsches Spiel herausstellt.

Diese Beschreibung trifft sehr gut auf die schon wieder längst vergangene große Koalition zwischen SPÖ und ÖVP zu. Kollusionen werden zum Teil durch unbewusste psychische Motive oder Konflikte verursacht, um eigene Vorteile anzustreben. Die ÖVP hat es durch Sebastian Kurz anscheinend geschafft, sich aus dem destruktiven Beziehungsmuster mit der SPÖ zu lösen. Die SPÖ und einige ihrer Vertreter haben das Ende der Beziehung mit ihrem Ex-Partner vermutlich noch nicht ganz verarbeitet. Umso wichtiger wäre es, sich nach neuen politischen Partnern umzuschauen und dabei nicht zu wählerisch zu sein, denn der angebetete Wunschpartner, nämlich die Grünen, ist ihnen abhandengekommen.

Politische Doppelmoral und Doppelbotschaften

Die Tatsache, dass die jeweils eine politische Fraktion bei der jeweils anderen gröbere Defizite im kognitiven und behavioralen Wertekonstrukt detektiert, ist für den gelernten Österreicher nichts Neues. Interessant ist nur, dass Sozialdemokraten und Vertreter des christlich-sozialen Lagers jahrzehntelang in durchaus harmonisch-kooperativer Partnerschaft das Land, im Sinne des Proporzes für ihre Parteien und ebenso eine Zeit lang für die Nation, erfolgreich regiert haben. Irgendwann aber dürfte diese Politromanze ein jähes Ende, in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden tiefen Misstrauen und einer damit assoziierten Aversion gegenüber dem jeweils anderen Lager, gefunden haben. Die Spitze dieses politischen Beziehungskonfliktes hat nun besondere Ausformungen von Doppelmoral und “Double Bind“-Situationen zur Folge.

Assoziationstest

Je ein Fallbeispiel für die beschriebenen Doppelbotschaften und die gelebte Doppelmoral könnte dann folgendermaßen aussehen:

“Wir sind für Gespräche mit allen offen“, mit dem kleinen unausgesprochenen Zusatz “nur zu unseren Bedingungen“.

Toleranz wird von anderen eingefordert, differenten politischen Meinungen gegenüber aber selbst nicht gelebt.

Im “impliziten Assoziationstest“ sei dem Leser freigestellt, welcher Partei er die oben genannten Beispiele zuordnen kann oder möchte. (Daniel Witzeling, 19.8.2020)

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