Jonas Kaufmann in Grafenegg: nuancenreich und gefährdet.

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Und der Himmel da oben, wie ist er so weit!" Als wäre es eine perfekte Inszenierung, konnte man bei der letzten Zeile der Schönen Müllerin den Blick nach oben richten, wohin die Abenddämmerung genau beim Schlusslied von Schuberts Zyklus ein tiefes Blau gezaubert hatte.

Zwei Tage nach der durchnässten Eröffnung des Grafenegg-Festivals verdüsterte kein Wölkchen das malerische Ambiente des Schlossparks. Ein gebannt lauschendes Publikum sog die Musik begeistert ein (mehrfacher Zwischenapplaus, im Konzertsaal ein absolutes No-Go, inklusive): endlich wieder ein Live-Konzert, für viele wohl das erste seit langer Zeit. Und auch der sympathische, routinierte Jonas Kaufmann wirkte – vor allem im ersten Drittel des Zyklus – beim auf ORF III live zeitversetzt übertragenen Konzert so angespannt, als wäre es der erste Auftritt nach Ewigkeiten.

Tradition des Tiefsinns

Seine intensive Auseinandersetzung mit Text und Musik wurde andererseits von Beginn an deutlich, sein Bemühen, schon die Strophen des Liedes Das Wandern jeweils anders zu charakterisieren und überhaupt in der Tradition tiefschürfender (deutscher) Liedinterpretation einzelnen Worten und Tönen Bedeutungsnuancen abzuringen.

Pianist Helmut Deutsch werkte unterdessen am selben Projekt hochdifferenzierter Gestaltungskunst: Bewundernswert, wie er dieser von ihm schon hundertfach gespielten Musik stets neue, sinnfällige Facetten abgewann und das Klavier im Dialog mit dem Tenor singen ließ.

Dessen Stimme vermittelte währenddessen ein Wechselbad der Gefühle: erstens, weil sich von seinen Lippen sehr wohl das Schicksal des liebeskranken Müllersburschen recht überzeugend ablesen ließ, zweitens aber, weil seine Stimme dabei durchgehend gefährdet wirkte. Sobald Kaufmann die wohlige Mittellage verlassen musste, um sich in für einen Tenor keineswegs ungewöhnliche Höhen zu bewegen, kam er bedenklich nahe an Notlagen. Es spricht für seine hohe Intelligenz und Sensibilität, dass bei aller gefühlten Gefahr dabei (fast) nichts passierte. Was naheliegen würde, nämlich die physische Anstrengung in intensivierten Ausdruck fließen zu lassen, tat der Sänger jedoch nicht – außer vielleicht bei den beiden geschwinden Liedern Der Jäger und Eifersucht und Stolz, die einzigen, die etwas von existenzieller Aufgewühltheit spüren ließen.

Für die dankbare Zuhörerschaft gab es gleich drei Schubert-Zugaben: Der Jüngling an der Quelle, Der Musensohn und Wanderers Nachtlied: Bei einem sehr kontrollierten, leisen, konzentrierten "Über allen Gipfeln ist Ruh’" schien der Himmel der Gesangskunst zum Greifen nahe – und doch so weit. (Daniel Ender, 18.8.2020)