Belgiens Wunderknabe Remco Evenepoel, die Deutschen Maximilian Schachmann und Emanuel Buchmann, der Slowene Primoz Roglic – die Liste der schwer verunfallten Radprofis wird immer länger. Zehn Tage nach dem Horrorsturz von Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt, den der Niederländer nur knapp überlebte, und zehn Tage vor Beginn der Tour de France ist die Szene alarmiert.

Pöstlberger vom Team Bora-hansgrohe weiß genau, wovon er spricht. Beim Klassiker Kuurne–Brüssel–Kuurne im März holte er sich einen Pflasterausschlag.
Foto: imago images/Sirotti

STANDARD: Die Stürze im Radsport mehrten sich zuletzt. Was ist da los?

Pöstlberger: Dieses Jahr ist eine Ausnahmesituation. Es lastet ein immenser Druck auf den Fahrern. Es gibt nur wenige Rennen, da will man gute Ergebnisse einfahren. Ich verstehe den Antrieb, alles zu riskieren. Für viele heißt es tatsächlich Pokal oder Spital.

STANDARD: Ist Zurückstecken im Radsport eine Option?

Pöstlberger: Keiner steckt zurück, wenn es um den Sieg geht. Keiner sagt, das ist ihm zu gefährlich. Man fährt auch um einen neuen Vertrag, da ist Zurückhaltung eher kontraproduktiv. Gerade der Sprint ist ein Instinkt, da macht man auch mal die Tür zu.

STANDARD: Haben Sie selbst schon schwere Stürze erlebt?

Pöstlberger: Ja, leider genug. Ich bin schon mit dem Kopf in die Absperrgitter eingetaucht. Gehirnerschütterung, Platzwunde. Relativ unschön. Jeder Sturz ist eine mentale Herausforderung. Man muss ihn wegstecken, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Spurlos gehen Stürze an keinem vorbei. Das ist ein Reflex, eine körperliche Reaktion.

STANDARD: Ist es Angst?

Pöstlberger: Ja, so kann man es nennen. Man darf nicht zu viel über alle Eventualitäten nachdenken, man muss die Gefahr ausklammern. Sonst kann man sich nicht mehr auf ein Rennrad setzen. Der Radsport ist gefährlich, es gibt keine Knautschzone, das ist unser täglich Brot. Man muss die Gefahr aber nicht künstlich vergrößern.

STANDARD: Ist das zuletzt passiert?

Pöstlberger: Wir sind kürzlich eine Rundfahrt in Tschechien gefahren. Die letzten fünf Kilometer ging es bergab und dann auch noch über ein Kopfsteinpflaster in der Innenstadt. Da rappelt es richtig. Es ist ein Wunder, dass nichts passiert ist. Es muss eine Show geboten werden, keine Frage. Manchmal scheint es aber fast die Intention zu sein, gefährliche Situationen zu kreieren. Das ist nicht okay, wir riskieren unser Leben.

Pöstlberger in Abfahrtsposition bei der Tour de France 2019.
Foto: APA/AFP/JEFF PACHOUD

STANDARD: Als Jakobsen in Polen zu Sturz kam, fuhr er im Sprint eine Geschwindigkeit von mehr als 80 Stundenkilometern.

Pöstlberger: Es ist unnötig, eine Zielankunft so anzusetzen, dass die Rennfahrer bergab solche Geschwindigkeiten erreichen. Das ist grob fahrlässig. Ist das notwendig? Muss das sein? Da geht es nicht mehr um den Sport, sondern nur ums Spektakel. Für den Zuseher ist es kaum ersichtlich, ob wir nun mit fünfzig oder achtzig Sachen unterwegs sind. Für den Rennfahrer macht es bei der Reaktionszeit aber einen gravierenden Unterschied.

STANDARD: Kritiker fordern von den Fahrern, das Hirn einzuschalten.

Pöstlberger: Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden. Jedem Fahrer müssen die Auswirkungen seines Verhaltens klar sein. Dylan Groenewegen ist jetzt für viele der Buhmann, weil er den Unfall mit Fabio Jakobsen in Polen verursacht hat. Ja, Kritik ist angebracht. Aber alles spielt sich im Bruchteil einer Sekunde ab.

STANDARD: Muss man die Veranstalter verstärkt in die Pflicht nehmen?

Pöstlberger: Das Gesamtpaket ist zu hinterfragen. Der Dialog zwischen dem Weltverband, den Veranstaltern und den Teams muss besser werden. Eine einheitliche Meinung wird es bei 200 Rennfahrern nicht geben. Es gibt immer einen, der sagt, er kann das. Der Weltverband muss also die Richtlinien setzen, er nimmt ja auch die Strecken ab.

STANDARD: Sind die Sicherheitsvorkehrungen im Radsport zeitgemäß?

Pöstlberger: Der Sport entwickelt sich weiter, es wird schneller. Zu denken, dass die Absperrgitter von vor zwanzig Jahren heute noch akkurat sind, ist fast lächerlich. Im Skisport ist man ja auch über die Holzlattenzäune zu den Auffangnetzen gekommen. Es braucht Fortschritt, auch in Sachen Sicherheit.

STANDARD: Haben Sie schon einmal über eine Versicherung gegen Berufsunfähigkeit nachgedacht?

Pöstlberger: Ja, man kann sich versichern, die Beiträge sind allerdings exorbitant hoch. Das Risiko eines Schadenseintritts wird sehr hoch eingeschätzt. Es gibt ja nicht nur die Rennen, sondern auch das Training, oft auf ungesicherten Straßen. Unter dem Strich kann man sich das Geld gleich sparen. (Philip Bauer, 18.8.2020)