Sheffield – Den Kuss mit der "Old Silver Lady" hatte Ronnie O'Sullivan sieben Jahre lang vermisst. "Endlich! Für mich geht heute ein Traum in Erfüllung", sagte der englische Snooker-König, als er der kleinen Figur auf der Spitze der WM-Trophäe einen zarten Schmatzer aufgedrückt hatte. Sieben Jahre nach seinem letzten WM-Triumph hielt O'Sullivan den Pokal wieder in den Händen, mit 44 Jahren zeigte er der jüngeren Generation noch einmal die Grenzen auf.

The Rocket, hier mit dem Rest.
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Sechs WM-Titel hat der nicht immer ganz einfache O'Sullivan nun gesammelt, zum Rekord des großen Schotten Stephen Hendry fehlt noch ein Erfolg. Natürlich wäre es "fantastisch", diese seit 1999 bestehende Bestmarke noch einzustellen, sagte der Mann aus Wordsley in den West Midlands. Aber: Seine Karriere sei auch so bereits ganz "wundervoll" verlaufen. Egal, was da noch komme.

"Wundervoll" verliefen auch die 17 Tage im Crucible Theatre von Sheffield für O'Sullivan. Den letzten "Pot" des Turniers vergeigte er zwar kräftig, als er voller Vorfreude den weißen Spielball fast verfehlte und Schwarz nicht einlochte. Der 18:8-Finalsieg gegen den 16 Jahre jüngeren Kyren Wilson war ihm da aber schon nicht mehr zu nehmen. Nach 2001, 2004, 2008, 2012 und 2013 stand O'Sullivan, der angesichts seiner Launen im Gentleman-Sport Snooker eine Art Paradiesvogel ist, wieder ganz oben.

O'Sullivan polarisiert

Dass er immer noch dabei ist, schreibt O'Sullivan auch der angeblich mangelnden Qualität des Snooker-Nachwuchses zu. Mit kritischen Aussagen über junge Spieler hatte der Superstar während des Turniers provoziert. "Viele von ihnen sind so schlecht", hatte er in einem Interview des Senders BBC gesagt. "Ich müsste einen Arm und ein Bein verlieren, um aus der Top 50 rauszufallen."

Doch solche Sprüche schaden der Popularität von O'Sullivan genauso wenig wie seine kritischen Kommentare über die Zuschauer. "Wenn ich da draußen bin, und die Fans rufen "Come on Ronnie, come on Ronnie", macht mir das ein bisschen Angst", sagte er. "Da ist so viel Leidenschaft in den Stimmen, als ginge es für sie um Leben und Tod. (...) Ich wünschte, sie würden etwas leiser sein und uns machen lassen."

Ronnie, die Rakete

"Ich habe heute gegen den Größten aller Zeiten gespielt", sagte Wilson nach seiner Niederlage dann auch. Die Zahlen belegen das: Mit seinem 37. Sieg bei einem Weltranglistenturnier ist O'Sullivan nun alleiniger Rekordhalter – den ersten hatte er schon 1993 geholt, mit 17 Jahren. Längst legendär ist sein "Maximum Break" von 1997, als er die 147 Punkte auf dem Tisch in fünf Minuten und acht Sekunden abräumte. "The Rocket" wird er seither genannt, die "Rakete".

Vor einem Jahr war O'Sullivan, der immer irgendwie zwischen Genie und Wahnsinn schwebt, bei der WM noch in der ersten Runde gescheitert. Nun zeigte er wieder "Ronnies Pot-Show", vor allem beim 17:16 im Halbfinal-Krimi gegen den dreimaligen Weltmeister Mark Selby (England). Als Lohn gab es ein stattliches Preisgeld in Höhe von 500.000 Pfund (ca. 580.365 Euro). "Ich trainiere ja nicht, weil die Bälle so schön bunt sind", sagte O'Sullivan süffisant, die 300 zugelassenen Zuschauer grinsten. "Das ist auch ein Triumph für alle Männer im mittleren Alter", schrieb das Boulevardblatt Sun.

Und nun? Schon am 17. April steht die nächste WM auf dem Programm. Sollte O'Sullivan seine Form bis dahin konservieren, kann der laut Snooker-Legende und Eurosport-Experte Jimmy White "beste Spieler auf dem Planeten" auch den siebten Titel holen. So weit wollte O'Sullivan aber nicht denken. "Wenn ich antreten würde, um Rekorde zu brechen, würde ich nicht so gut spielen, wie ich es tue", sagte er. Sprach's und gab auch seiner Verlobten einen Kuss, der Schauspielerin Laila Rouass. Die "Old Silver Lady" ist frühestens 2021 wieder dran. (sid, APA, 17.8.2020)