Seit Wochen lesen wir von Post-Covid-19-Apologeten salbungsvolle Ratschläge: Was Führungskräfte nicht alles lernen können oder was nun alles kommen wird. Doch die momentan einzig gültigen Gewissheiten sind: Ungewissheit und vielerlei Ambiguitäten.

Führungskräfte tun sich sehr schwer, das wahrzuhaben, da vor allem im Mittelmanagement Sicherheiten wie Forecasts, Pläne oder Budgets gefordert werden, die es so nicht geben kann. Zusätzlich stehen Geschwindigkeit und Komplexität diametral im Widerspruch zu sozialen Mitarbeiterbedürfnissen, bewährte Geschäftsmodelle funktionieren einfach nicht mehr.

Ambiguität und Widersprüche sind ein wesentlicher Teil des Führungsalltags – etwas, das wir seit Aristoteles in Form der Dialektik kennen, der Kunst, mit Widersprüchen zu leben. Einer aktuellen Umfrage des "Managermagazins" folgend, haben sich Unsicherheiten und Widersprüche seit der Pandemie sogar noch weiter verstärkt (laut 55 Prozent der befragten Führungskräfte). Gute Bilanzen und Technologisierung haben Führungskräften lange Zeit bloß vermeintliche Sicherheiten vorgetäuscht.

Von der Kunst lernen

Wie aber sollen Organisationen und Führungskräfte agieren, um sich diesen Anforderungen zu stellen? Da wäre die Möglichkeit, den Kopf in den Sand zu stecken und in Starrheit unterzugehen, was gerade auch oft praktiziert wird. Oder – wohl die bessere Option – aus starren Systemen bewegliche formen, sich frei machen von fixen Plänen und Forecasts, von Gefälligkeiten oder Seilschaften, die eigene Komfortzone verlassen, um stattdessen angstbefreit neues Land zu betreten und dort mit Leidenschaft auf Vertrauen, Empathie, Inspiration und Kreativität zu setzen. Und sich dazu von der Kunst inspirieren lassen, deren Grundfeste Mut, Visionskraft, Empathie und Kreativität sind. Gegenüber der Wirtschaft hat sie den Vorteil: "Die Kunst muss nichts ... die Kunst darf alles!", sagte der Chemiker und Nobelpreisträger Ernst Otto Fischer, der so Künstlerinnen bestärkt, frei, unangepasst und sich immer wieder neu erfindend ihrer Arbeit nachzugehen.

Die Band Naked Lunch bei der Sommereröffnung des Museumsquartierts im Jahr 2013. Sänger und Leader Oliver Welter steht links am Mikrofon.
Foto: Heribert Corn

Den Brückenschlag zwischen Wirtschaft und Kunst haben wir schon vor Jahren getätigt. Wir arbeiten mit Führungskräften aus dem Mittel- und Topmanagement an der Entwicklung von Social Skills und der dringlichen Frage, wie ein Team geführt werden muss, damit es mehr ist als die bloße Summe seiner Teile. Wir arbeiten mit unseren Erfahrungen im Leiten von Teams, mit den Bausteinen der Musik, wie Melodie oder Rhythmus, und mit den Elementen der Bühnenarbeit, um Empathie, Wahrnehmung, Ausdruck, Präsenz und Beziehungsfähigkeit zu schärfen und zu vertiefen.

Jemand, der als Leiter eines künstlerischen Kollektivs hier als wissend betrachtet werden kann, ist der Bandleader. Er ist einer Führungskraft im Management sehr ähnlich: Der Bandleader muss, oft unter Zeitdruck, schwierige Mitarbeiter in Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten zu einem größeren Ganzen – einer Band/einem musikalischen Kollektiv – zusammenführen. Will er dabei erfolgreich sein, muss er folgende Attribute aufweisen können:

  • Konzentrationsfähigkeit und Präsenz: Der Bandleader muss, obwohl selbst ein oder mehrere Instrumente spielend, das kollektive Spiel wahrnehmen und zusammenführen.
  • Entscheidungsfähigkeit: Dazu muss der Bandleader permanent relevante Entscheidungen treffen, was musikalisch betont oder weggelassen gehört.
  • Empathie: Der Bandleader hat verantwortungsvoll mit seiner Position umzugehen und darf deshalb Bedürfnisse und etwaige Probleme seiner Bandmitglieder nicht vernachlässigen, weil nur gut integrierte und zufriedene Musiker im Zusammenspiel harmonieren.
  • Kreativität: Kreative Kollaboration beruht nicht auf funktionaler Macht oder einem Methodenset, sondern wird, trotz Zeit- und Termindrucks, durch Resonanz, Gefühl und Intuition ermöglicht.
  • Beharrlichkeit: Bedingungsloses "Dranbleiben", immer mit der Option des Scheiterns vor Augen und der Fähigkeit, daraus konsequent zu lernen.

Genau diese Eigenschaften hat einer der Autoren in zahlreichen Silicon-Valley-Aufenthalten erfahren, wo Leadership mit weniger funktionaler Macht, Überheblichkeit oder Ignoranz, dafür mehr in Form von Kollaborationsfähigkeit, Mut und Beharrlichkeit gelebt wird.

Wie eine Band zusammenspielen

Damit nun Entwicklung und Leistungsfähigkeit gerade in Zeiten des Wandels möglich werden, muss eine Führungskraft nicht mit "Wir haben uns alle gern" leiten, sondern in Form von ehrlichen und emphatischen Beziehungen zu den Mitarbeiterinnen, deren Fähigkeiten die Führungskraft wahrnehmen, fordern und fördern – und dabei nicht zu verharren in der wohligen Komfortzone, sondern bereit sein für das Neue, ist eine Kunst.

Um das in Unternehmen zu leben, müssen alte Paradigmen wie Macht, Seilschaften, Abhängigkeiten oder Wichtigtuerei über Bord geworfen werden. Daher scheitern auch so viele Agilitätsbemühungen als Innovationskino, weil sie an der Oberfläche bleiben und nicht an den Grundfesten rütteln. Soziale Verträge und Gefälligkeiten müssen radikaler Transparenz und Offenheit weichen, wollen Mitarbeiter in Organisationen wie eine erfolgreiche Band zusammenspielen.

Das Unternehmen als Band verstehen. So sollen menschliche Beziehungen zwischen den Arbeitskräften reifen.
Foto: Istock

Wie kann das gelingen? Als Beispiel dient ein mittelständisches Unternehmen aus der Stahlindustrie – ein Familienbetrieb. Die nun vierte Generation stellt sich den Herausforderungen: Die Eigentümer und das Managementteam möchten sich besser abstimmen, ohne dabei auf Pseudoagilität zu setzen. Also werden in einem mehrtätigen Prozess unter anderem auch schmerzhafte Dinge angesprochen und damit Emotionen beziehungsweise Unausgesprochenem Raum gegeben.

Am Ende wird von allen zusammen ein Song komponiert und aufgeführt. Dabei wird die Geschichte des Unternehmens auf die Bühne gebracht und neu geschrieben. Jeder einzelne ist dabei präsent, spielt, streitet, komponiert, ist aktiv und gestaltend bei der Sache und taucht ein in einen gemeinsamen Strom. Dieser Strom ist unsicher und widersprüchlich, doch hat er etwas Heilendes. Am Ende entsteht so etwas wie die Magie des Teams, in dem jeder seinen Platz kennt und gemeinsam etwas Größeres geschaffen wird, als es der Einzelne je schaffen hätte können.

Beziehungsfähigkeit entwickeln

Das ist nicht verklärte Sozialromantik oder Rückfall in Zeiten der Encounter-Gruppen der 60er, sondern ein Weg der Reifung menschlicher Beziehungen, um die es nun so dringend geht. Der letzte Linkedin-Workforce-Report hat dies eindringlich unterstrichen – laut einer Umfrage bei 60 Millionen Arbeitskräften stehen Kreativität, Empathie und Beziehungsfähigkeit als die wichtigsten Skills, die es nun zu entwickeln gibt, mit Abstand an oberster Stelle.

Diese zu entwickeln wird mit Bestimmtheit die nächsten Jahre prägen. Egal ob in der Stahlindustrie, in einer Bildungseinrichtung oder in anderen Branchen. Der Weg erfordert Mut und Offenheit, führt zumindest nicht direkt zum wirtschaftlichen Erfolg und benötigt vor allem eines: die Bereitschaft, sich auf einen Prozess einzulassen, der unsicher und widersprüchlich ist, dies aber im Vertrauen und Wissen darum zu tun, dass es der einzig mögliche Weg ist, uns in dieser Welt langfristig weiterzuentwickeln. (Werner Sattlegger, Oliver Welter, 19.8.2020)