Ursula Hess ist Prodekanin für Internationales der Lebenswissenschaftlichen an der Humboldt-Universität in Berlin und forscht unter anderem zu Mimik und Emotionen.

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STANDARD: Korrekt getragen verdeckt die Maske Nase und Mund – die Hälfte unseres Gesichts wird also unkenntlich. Nehmen wir unser Gegenüber dadurch anders wahr?

Hess: Ob ein Mensch einen positiven oder negativen Eindruck auf uns macht, hängt vor allem davon ab, wie wir das Tragen von Masken bewerten. Sind Sie jemand, der die derzeitigen Schutzmaßnahmen übertrieben findet, erscheint Ihnen Ihr Gegenüber vielleicht als leichtgläubig, wenn nicht gar dumm. Tragen Sie die Maske hingegen aus Überzeugung, begegnen Sie Ihrem Gegenüber vermutlich wohlgesonnener.

STANDARD: Ein Lächeln hilft oft, eine unangenehme Situation zu entspannen. Mit Mund-Nasen-Schutz wird dies schwieriger ...

Hess: Das würde man vermuten. Aus einer unserer Untersuchungen, die demnächst veröffentlicht wird, wissen wir allerdings, dass das so nicht stimmt.

STANDARD: Können Sie das genauer erklären?

Hess: Menschen erkennen Gefühlsausdrücke nicht wesentlich schlechter, wenn die Partie um Mund und Nase verdeckt ist. Beim echten Lächeln bewegt sich nämlich nicht nur der Mund, es kontrahieren auch der große Jochbein- sowie der Augenringmuskel. Dadurch heben sich die Mundwinkel, und um die Augen entstehen die typischen Lachfältchen. Um Emotionen zu erkennen, reichte im Test zumeist die Augenpartie. Wir haben das mit Schals, Niqabs und Masken untersucht. Verwechslungen gab es nur in Einzelfällen.

STANDARD: Wo zum Beispiel?

Hess: Bei Furcht und Überraschung. Beides Gefühle, bei denen wir die Augen in der Regel weit aufreißen. Den entscheidenden Unterschied liefert die Mundpartie. Furcht äußern wir über einen breitgezogenen Mund; sind wir überrascht, machen wir ihn auf. Werden Mund und Nase verdeckt, können wir diesen feinen Unterschied nicht erkennen. Dass wir selbst subtile mentale Zustände wie etwa Nachdenklichkeit an der Augenpartie ablesen können, zeigt auch der "Reading Mind in the Eyes"-Test des britischen Psychologen Simon Baron-Cohen.

STANDARD: Ein Test, der ursprünglich zur Diagnose von Autismus entwickelt wurde. Wie kann dieser hier helfen?

Hess: Da Menschen mit Autismus sich weniger gut in ihr Gegenüber einfühlen können und Blickkontakt oft meiden, bittet man die Testpersonen, sich Bilder unterschiedlicher Augenpartien anzuschauen und ihnen die richtigen Gefühlszustände zuzuordnen. Das Spannende: Menschen, die nicht autistisch sind, schneiden bei diesem Test sehr gut ab. Unsere Empathiefähigkeit schränkt der Mundschutz also nicht wesentlich ein.

STANDARD: Der Supermarkt ist kein Labor. Lassen sich solche Experimente auf den Alltag übertragen?

Hess: Unsere Untersuchungen zeigen erstmal, dass wir zum Erkennen von Emotionen nicht auf den Mund unseres Gegenübers angewiesen sind. Im Supermarkt, in der Konditorei oder auf der Straße gibt es sogar einen entscheidenden Vorteil: Menschen begegnen sich mit dem gesamten Körper. Ob ein Mensch traurig, ärgerlich oder fröhlich ist, drückt er schließlich nicht nur über die Mimik aus, sondern auch über die Art, wie er sich bewegt und redet. Und nicht nur das: Ob jemand lächelt oder ernst schaut, ist auch zu hören.

STANDARD: Wie hört sich ein Lächeln an?

Hess: Es klingt hell. Das liegt daran, dass die Mundform die Modulation unserer Stimme verändert. Ein ernst schauendes Gesicht klingt hingegen dunkler.

STANDARD: Gefühlszustände zu erkennen ist eine Sache. Die andere ist das Fühlen. Sehen wir einen Menschen lächeln, sorgen Spiegelneuronen dafür, dass wir ebenfalls lächeln – zumindest innerlich. Sind wir schlecht gelaunt, fühlen wir uns dadurch oft besser. Funktioniert das auch mit Maske?

Hess: In der Forschung nennen wir das "soziale Mimikry". Gemeint ist damit, dass Menschen dazu tendieren, das Verhalten ihres Gegenübers zu imitieren: Überschlägt er die Beine oder legt nachdenklich sein Kinn in die Hand, tut der andere das oft auch. Durch dieses Sich-gegenseitig-Spiegeln bewerten wir die Interaktion insgesamt positiver und fühlen uns dem anderen näher. Eine Person, die nicht imitiert, vermittelt den Eindruck, in der Beziehung würde etwas nicht stimmen. In der bereits angesprochenen Studie imitierten Menschen das Lächeln ihres Gegenübers selbst dann, wenn Mund und Nase verdeckt waren.

STANDARD: Der Mund-Nasen-Schutz scheint jedoch durchaus einen Eindruck zu hinterlassen: In Hongkong hat ein Team von Forscherinnen und Forschern untersucht, wie sich das Tragen von Masken auf die Arzt-Patienten-Beziehung auswirkt. Mit Mund-Nasen-Schutz schätzten die Patienten ihren Arzt als weniger empathisch ein.

Hess: An dieser Stelle sind wir wieder bei den Einstellungen, mit der wir einer Person mit Mundbedeckung begegnen. Auch in unseren Studien schätzten die Befragten Personen mit Maske als "kälter" ein – trugen sie einen Schal, wurde das Gegenüber als vergleichsweise "wärmer" empfunden. Das liegt vermutlich daran, dass viele Menschen sich Ärzte nach wie vor als distanziert und tendenziell weniger emotional vorstellen – besonders Chirurgen. Die selbstgenähten Masken, die mittlerweile viele tragen, dürften eher wie Schals wahrgenommen werden.

STANDARD: Welchen Effekt hat das Tragen von Masken auf Kinder? Sie sind im Erkennen von Gefühlen schließlich noch nicht so geübt wie Erwachsene.

Hess: Kinder im Grundschulalter stehen uns Erwachsenen im Zuordnen von Emotionen tatsächlich kaum nach. Für Kleinkinder ist der Anblick von Körpern und Gesichtern, die irgendwie anders aussehen, ungewohnt und dadurch stressig. Viele Babys weinen daher, wenn sie das erste Mal einen Menschen mit Bart sehen. Sind Nase, Mund und Kinn plötzlich weg, wird sie das irritieren.

STANDARD: Wie können Mutter und Vater dem vorbeugen?

Hess: Sie können ihren Nachwuchs spielerisch mit dem Mund-Nasen-Schutz vertraut machen. Beispielsweise indem sie sich die Maske erstmal nur kurz vors Gesicht halten und dann wieder wegnehmen. Kleinkinder lernen schnell und werden sich an die neue Situation gewöhnen. Anders ist es bei Menschen, die nur sehr wenig oder nicht hören können. Viele von ihnen sind auf das Lesen von Lippen angewiesen. Entsprechend ist die aktuelle Situation eine Herausforderung. Einzelne Initiativen stellen mittlerweile zwar Masken her, die um den Mund herum transparent sind. In der breiten Bevölkerung scheinen die sich jedoch nicht durchzusetzen.

STANDARD: Haben Masken auch einen Vorteil? Können sie unser soziales Miteinander verbessern?

Hess: Ja, indem wir sie als Zeichen der Solidarität werten. Wenn wir im Mund-Nasen-Schutz einen Ausdruck gegenseitiger Fürsorge sehen, rücken wir emotional näher zusammen. Das schafft ein Gefühl von Gemeinschaft und gibt uns vielleicht ein Stück Sicherheit zurück, die manche durch die außergewöhnliche Lage womöglich ein wenig verloren haben. (Stella Hombach, 20.8.2020)