Ein noch schlimmeres Unheil erwartet den Planeten, warnt der Theatermacher Milo Rau im Gastkommentar. Dabei gehörte gesagt: Wir machen das Spiel nicht mehr mit.

Ursina Lardi in einer Probe von Milo Raus "Everywoman". Das Stück spiegelt den "Jedermann" in die Gegenwart und wird heute in Salzburg uraufgeführt.
Foto: APA / Barbara Gindl

Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt." Das ist ein Satz aus der Rede, die die indigene Aktivistin und Schauspielerin Kay Sara zur Eröffnung der Wiener Festwochen Mitte Mai gehalten hat. Kay Sara spielt die Rebellin Antigone im Stück Antigone im Amazonas, das wir Ende Februar im brasilianischen Amazonas-Gebiet zu proben begonnen hatten und wegen Corona abbrechen mussten.

Brasilien ist unterdessen mit den USA zum Weltzentrum der Corona-Epidemie geworden. Die Wälder des Amazonas brennen stärker denn je, Brasiliens Staatspräsident Jair Bolsonaro und die mit ihm verbündete Agrarindustrie nutzen das Chaos. Währenddessen läuft in Europa die Betroffenheitsindustrie auf Hochtouren. "Man hat uns in den letzten Wochen viele Pamphlete geschickt. Weniger fliegen wollt ihr, weniger rauben, weniger töten", sagt Kay Sara in ihrer Rede, und sie fährt fort: "Aber wie könnt ihr glauben, dass euch nach 500 Jahren der Kolonisierung der Welt ein Gedanke kommen kann, der nicht nur weitere Zerstörung bringt?"

Angesichts der Entscheidungen, die die westlichen Industrieländer – fast allesamt Demokratien, also wir alle – nach der ersten Welle Corona getroffen haben, muss man Kay Sara zustimmen: Nur noch schlimmeres Unheil erwartet den Planeten. Milliardenhilfen wurden gerade für jene Sektoren beschlossen, die an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen den entscheidenden Anteil hatten. Sie können ihre Arbeit nun zu Ende führen: Fluggesellschaften, Erdöl- und Autokonzerne. Und natürlich gilt: Die wirtschaftlichen Langzeitfolgen von Corona tragen zum größten Teil nicht die Industrieländer, sondern der Globale Süden. Die Rohstoffpreise sind in den Keller gefallen, die globalen Lieferketten auf Eis gelegt.

Bloße Solidaritätsdeko

Natürlich haben unsere Regierungen sich auch für Finanzhilfen für weniger systemrelevante Sektoren entschlossen, etwa die Theater. Aber das ist Solidaritätsdeko, denn auch hier sind es die Großen, die davon strukturell am meisten profitieren. Und vor allem: Das Geld, das in die Kultur fließt – woher kommt es denn? Aus der Wirtschaft. Unsere komplette Demokratie, unser kompletter Wohlstand ruhen – nicht ausschließlich, aber vor allem – auf dem Geld von Großkonzernen. Das ist eine Binsenweisheit, aber lassen Sie mich dazu ein sehr persönliches Beispiel geben: Mein neues Stück Everywoman feiert an den Salzburger Festspielen Premiere, ein Monolog, den ich mit der Schauspielerin Ursina Lardi und der Dramaturgin Carmen Hornbostel erarbeitet habe. Einer der Hauptsponsoren der Salzburger Festspiele ist seit vielen Jahrzehnten der Autohersteller Audi, der im Zweiten Weltkrieg KZ-Insassen als Sklavenarbeiterinnen und Sklavenarbeiter einsetzte und Kriegsfahrzeuge herstellte – und heute als Hersteller von Luxusautos fortfährt, den Planeten zu zerstören.

"Wir sind nicht nur zum Normalbetrieb zurückgekehrt, wir versuchen sogar, die verloren geglaubte Zeit wieder aufzuholen."

Während ich das in einer Probenpause schreibe, bereitet sich der radikale Pianist Igor Levit ein paar Häuser weiter auf seinen nächsten Beethoven-Abend vor, so wie Tausende von Künstlerinnen und Künstlern vor ihm – und jetzt eben ich. Wie kann es sein, dass wir in solchen Widersprüchen atmen und denken und Kunst machen können? Dass sie uns nicht die Sprache verschlagen? "Gab es", fragt Ursina Lardi in Everywoman, "je eine Zeit, in der Wissen und Tun so säuberlich getrennt waren wie in dieser?"

Dabei haben wir in den vergangenen Monaten doch erlebt, wie westliche Gesellschaften rational und solidarisch gehandelt haben. Eine Ökonomie des Lebens siegte, immerhin zeitweise, über eine Ökonomie des Mehrwerts. Und heute? Wir sind nicht nur zum Normalbetrieb zurückgekehrt, wir versuchen sogar, die verloren geglaubte Zeit wieder aufzuholen. Das liegt natürlich an der Beharrungskraft der Lobbys genauso wie an unserer inneren Gestimmtheit. Es ist, als käme uns als Kultur "kein Gedanke mehr, der nicht nur weitere Zerstörung bringt", um Kay Sara zu zitieren. Die europäischen Großkonzerne arbeiten einfach weiter, so wie sie unter allen zufälligen politischen Systemen gearbeitet haben und arbeiten werden – und lassen ihre Zulieferer, wenn nötig, fallen.

Tragisches Versagen

Und wir Künstlerinnen und Künstler? Wie programmierte Maschinen sind wir längst zu unserer Hauptbeschäftigung zurückgekehrt: uns gegenseitig absichtlich misszuverstehen, um uns dann in ewigen Zirkeln des Rechthabens, Beschämens und Beschämtwerdens zu drehen. Ja, Kay Sara hat recht: Unsere Lebensweise ist die soziale Skulptur eines tragischen Versagens. Als ich gestern die Wörter "Klima" und "Audi" bei Google eingab, da wurden so überwältigend viele von Audi geförderte Klimaschutzprojekte aufgelistet, als könne nur Audi, nur Audi allein, nur die Erdöl- und Automobilindustrie uns noch vor der bevorstehenden Apokalypse retten – die sie zugleich selbst herbeiführen.

Dabei wissen wir alle, was zu tun wäre. Wir wissen, dass wir den Audi-Konzern, dass wir alle Konzerne stürmen müssten. Dass wir, wie es in der letzten Szene von Everywoman heißt, einfach in die Läden gehen müssten, in die Supermärkte, ganz entspannt, ohne Zorn, voller Sanftmut – und die Regale leerräumen. Dass wir sagen müssten: Wir machen das Spiel nicht mehr mit. Wir wollen Fairness, Menschlichkeit, Gerechtigkeit. Wir müssten aufstehen und sagen: Das war's. Kritik reicht nicht mehr. Es muss sich alles, wirklich alles ändern. (Milo Rau, 19.8.2020)