Die Glückwünsche hörte Sergej Tichanowski nur von draußen. Der bekannte belarussische Blogger beging seinen 42. Geburtstag am Dienstag hinter Gittern. Seit Ende Mai sitzt er in U-Haft; angeblich wegen Störung der öffentlichen Ordnung und der Behinderung von Wahlen. Doch vor den Mauern der U-Haftanstalt des belarussischen Innenministeriums in Minsk versammelten sich nun 400 Demonstranten. Sie spielten die Lieblingslieder Tichanowskis und brachten ihm Geschenke und eine Geburtstagstorte.

Immer öfter wird die alte Fahne Belarus', die Alexander Lukaschenko 1995 ersetzen ließ, bei den Protesten geschwungen.
Foto: EPA / Yauhen Yerchak

Den Kuchen wird der während der Wahlkampagne von der Obrigkeit aussortierte Präsidentschaftskandidat, der daraufhin – allem Anschein nach erfolgreich – seine Frau Swetlana Tichanowskaja ins Rennen schickte, wohl erst nach der Freilassung essen können. Die Wärter verweigerten die Annahme der Mitbringsel. Und die Freilassung hängt davon ab, wie erfolgreich die Demonstranten am Ende sind. Vieles spricht dafür, dass die Proteste das Regime von Alexander Lukaschenko einstürzen lassen.

Der Autokrat von Belarus (Weißrussland) führt nur noch Rückzugsgefechte. Der Versuch, die Lage auf der Straße durch Reden vor Fabrikarbeitern wieder unter Kontrolle zu bringen, ist gescheitert. Die Illusion, dass die einfachen Menschen ihn weiterhin unterstützen, ist damit geplatzt. Verlassen kann sich Lukaschenko nur noch auf die Sicherheitsorgane.

Orden für Polizisten

Mehr als 300 Beamte des Innenministeriums zeichnete Lukaschenko am Dienstag mit der Medaille "Für treue Dienste" aus. Angesichts der blutigen Niederschlagung der ersten Proteste nach der Wahl, die in zahlreichen Videos dokumentiert ist, macht er sich mit der Auszeichnung im Volk weiter unbeliebt.

Immerhin wurden knapp 7000 Personen festgenommen, hunderte Demonstranten bei den Auseinandersetzungen verletzt und mindestens drei Menschen getötet. Viele Protestierende gelten immer noch als vermisst. Wegen des harten Vorgehens der Polizei musste sich anschließend sogar Innenminister Juri Karajew entschuldigen.

Seither lässt die Polizei die Demonstranten mehr oder weniger gewähren. Die friedlichen Proteste nehmen daher von Tag zu Tag an Ausmaß zu. Praktisch alle staatlichen Betriebe sind inzwischen von Streiks betroffen.

Die Opposition hat sich mit Unternehmern über Solidaritätsaktionen für die Streikenden, denen die Obrigkeit mit Lohnausfall und Kündigung droht, geeinigt. Cafés und Restaurants versorgen die Arbeiter mit warmem Essen, Geschäfte bieten Rabatte an, andere Unternehmer kostenlose Dienstleistungen und medizinische Hilfe. Selbst kostenlose Umschulungen und Onlinekurse sind im Angebot. Und natürlich sammelt die Opposition eifrig Spenden.

Opposition bekommt Struktur

Das zeigt, dass sich der zunächst ungeordnete Protest mehr und mehr organisiert. Lukaschenko hat seine Herausforderin Tichanowskaja zunächst zwar außer Landes getrieben, doch von dort meldete sie sich nun zurück, bereit, eine Führungsrolle bei der Transformation zu übernehmen.

Mehr noch: Auch im Land organisiert sich die Opposition. Ein vorläufiger Koordinierungsrat wurde bereits Anfang der Woche gebildet. Neben Politikerinnen wie Olga Kowalkowa – eine Vertraute Tichanowskajas – und Maria Kolesnikowa, der Stabschefin des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, sind auch Journalisten, Unternehmer, Wissenschafter, Ärzte, Bürgerrechtler und Künstler vertreten. Im Komitee ist so auch die Nobelpreisträgerin für Literatur, Swetlana Alexijewitsch. Alexijewitsch gilt als langjährige Kritikerin Lukaschenkos und forderte den Amtsinhaber zum Rücktritt auf.

Das Komitee soll die Interessen der Opposition vertreten, die sich auf dem Internetportal Nexta schon als "rechtmäßig gewählte Autorität" bezeichnet. Geplant ist die Bildung eines politischen Organs innerhalb des Komitees, das dann die Verhandlungen über einen Machtwechsel aufnehmen könnte.

Derweil laufen auch die Drähte zwischen Moskau und den EU-Hauptstädten heiß: Wladimir Putin telefonierte am Dienstag mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Während Merkel einen Dialog zu Belarus forderte, blieb Putin bei seiner Position, dass die EU keinen Druck auf die belarussische Führungsspitze ausüben dürfe. (André Ballin, 18.8.2020)