Kinder können Teil der Infektionskette sein, aber wie verursachen keine Cluster, sagt Ursula Wiedermann-Schmidt. Epidemiologe Florian Stigler sieht die Situation differenziert, Schulen hätten schneller wieder öffnen können, sagt er.

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STANDARD: Wie kam es, dass ein Virus unsere Welt so auf den Kopf gestellt hat?

Ursula Wiedermann-Schmidt: Sars-CoV-2 kam sehr überraschend und ist enorm facettenreich. Darum war es am Anfang sehr schwer abzuschätzen, wen es trifft und wie schwer und wen nicht. Andere Infektionskrankheiten schwappen über alle drüber, egal ob jung oder alt, Mann oder Frau, mit oder ohne Vorerkrankungen. Wenn Sars-CoV-2 einmal zugeschlagen hat, dann kann es entweder eine extrem schwere Erkrankung auslösen oder fast unbemerkt verlaufen. Diese Spannbreite hat die Einschätzung der Maßnahmen so schwierig gemacht. Wann ist etwas richtig, wann ist es überbordend? Können wir es uns leisten, nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen, wenn eine Erkrankung bei vielen doch so harmlos verläuft?

Infektiologin Ursula Wiedermann-Schmidt betrachtet die virologische Dynamik.
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STANDARD: Ist die Bedrohung wirklich so groß, oder wurde dabei übertrieben?

Florian Stigler: Es hat viele gegeben, die das Risiko deutlich überschätzt haben, und andere, die es heruntergespielt haben. Das hat sehr polarisiert: Es gab diejenigen, die einen radikalen Lockdown für richtig hielten, und auf der anderen Seite auch diejenigen, die ihn für völlig falsch hielten. Für mich als Wissenschafterin war klar, dass wir nur über die verfügbaren Daten reden können. Im Nachhinein erscheint es immer noch sinnvoll, dass rasch und deutlich reagiert wurde.

Erkennen, beobachten, handeln: Florian Stigler wirft einen Gesamtblick auf die Gesellschaft.
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STANDARD: Vor allem dem Bundeskanzler wurde vorgeworfen, dass er zu viel Angst verbreitet hat. War das so aus Ihrer Sicht?

Stigler: Im Nachhinein betrachtet, war das wahrscheinlich so. Anderseits verstehe ich auch, dass es in der Frühphase wichtig war, das Bewusstsein der Bevölkerung für die notwendigen Maßnahmen zu stärken. Auch für viele Expertinnen und Experten war es Anfang März noch undenkbar, dass in Europa ein Lockdown überhaupt möglich wäre. Im Augenblick scheint es jedoch in die andere Richtung zu gehen, es dominiert die Sorglosigkeit. Das goldene Mittelmaß zu finden sollte hier das Ziel sein.

Wiedermann-Schmidt: Das Problem war, dass man am Anfang gar nicht abschätzen konnte, was da auf uns zu kommt. Eine Situation wie in der Lombardei? Da war es wohl wichtig, dass man in der Kommunikation eine gewisse Dramatik vermittelt. Man möchte als Bürgerin in so einer unsicheren Situation klare Aussagen. Doch es gibt auch einen Lerneffekt. Wenn Menschen etwas nur deshalb machen, weil sie Angst haben oder Strafe zahlen müssen, dann hat das oft die falschen Auswirkungen. Man hat das etwa an denjenigen gesehen, die alleine im Auto gesessen sind und die Maske getragen haben. Die haben nicht verstanden, worum es geht.

STANDARD: Wie stärkt man die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung?

Wiedermann-Schmidt: Gesundheitserziehung muss bereits im Kindergarten und in der Schule beginnen. Ich habe viele Jahre in Schweden gelebt. Hier gibt es eine andere Art, mit Gesundheitsfragen umzugehen. Da braucht man keine Diskussion über Impflicht, da sind die Impfraten hoch. Die Schweden verstehen den Benefit und fühlen sich nicht ihrer persönlichen Freiheit beraubt. Das ist eine Frage der Kultur und der Bildung. Da haben wir in Österreich vieles verabsäumt. Ich wünschte mir, dass endlich mehr getan wird.

Stigler: Aus Public-Health-Sicht ist Bildung eine der wichtigsten Einflussfaktoren für unsere Gesundheit. In Österreich wird das Thema Health-Literacy immer wichtiger. Das ist eine positive Entwicklung, aber wir haben immer noch großen Aufholbedarf.

STANDARD: Objektiv betrachtet gibt es viel größere Gesundheitsrisiken als Corona. Wieso fürchten sich die Menschen davor weniger?

Stigler: In Österreich sterben pro Jahr 14.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Das sind vermeidbare Todesfälle, und wir wissen, dass unter allen gesundheitspolitischen Maßnahmen die Tabaksteuer wohl am wirkungsvollsten wäre. Trotzdem war es bis jetzt nicht möglich, die Zigarettenpreise in Österreich zumindest auf den europäischen Durchschnitt anzuheben. Zigaretten sind bei uns immer noch zu billig. Offenbar haben wir uns an die Todesfälle durch das Rauchen schon zu sehr gewöhnt, obwohl wir dagegen viel tun könnten und sollten.

Wiedermann-Schmidt: Ich ärgere mich jedes Jahr, dass niemand über die rund 1000 Todesfälle redet, die die Influenza verursacht. Die wären vermeidbar, und das kratzt niemanden. Es beruhigt offenbar schon, wenn man weiß, es gibt Medikamente und man könnte sich impfen lassen, wenn man wollte. Trotzdem tun es nur sehr wenige Menschen. Wenn man sich ansieht, was das für das Gesundheitswesen – Spitalsaufenthalte, aber auch viele Krankenstände – bedeutet, dann steht das nicht im richtigen Verhältnis.

Stigler: Das Coronavirus hat allerdings ein deutlich höheres Sterbe- und Erkrankungsrisiko. Deutlich mehr Infizierte versterben und deutlich mehr könnten sich infizieren, diese zwei Zahlen muss man multiplizieren. Bei der jährlichen Influenza erkranken meist weniger als fünf Prozent der Bevölkerung, bei Covid-19 könnten es im schlimmsten Fall mehr als 50 Prozent sein. Insgesamt ist der mögliche Schaden deshalb nicht vergleichbar.

STANDARD: Experten warnten schon lange vor einer neuen Viruspandemie. Wie überraschend kam Sars-CoV-2 wirklich?

Wiedermann-Schmidt: Spätestens seit Sars und Mers hat man schon gewusst, dass irgendwann eine Pandemie droht. Letztendlich weiß man es aber nie im Vorhinein, wie sich ein neues Virus verhalten wird und wie gut man sich darauf vorbereiten kann. Sars-CoV-2 hat sich deutlich schneller über die ganze Welt ausgebreitet, als wir anfangs vermutet haben.

STANDARD: In anderen Ländern gibt es Institute, die sich laufend mit solchen Bedrohungen beschäftigen. Brauchen wir so etwas in Österreich?

Wiedermann-Schmidt: Wir haben in Österreich diese Expertise, aber sie hat nicht die Bedeutung und auch nicht das Geld und Personal wie etwa das Robert-Koch-Institut in Deutschland. Dazu gehört zum Beispiel die Abteilung für Infektionsepidemiologie und Surveillance in der Ages. Sie betreibt ein österreichweites elektronisches Meldesystem für Infektionskrankheiten und macht auch die Clusteranalysen zu Covid. Diese Einrichtungen sollten gestärkt und die Vernetzung mit den Universitäten gefördert werden. Es gibt hier viel Kompetenz, die oft nicht die nötige Aufmerksamkeit erhält.

Stigler: Durch die Pandemie ist sichtbar geworden, wie relevant Public Health für unsere Gesellschaft ist. Doch dieser Fachbereich steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen, international können wir noch nicht mithalten. Nehmen wir zum Beispiel Singapur. Dort hat man bereits aus anderen Pandemien gelernt und deshalb schon am Tag der ersten Diagnose Studien gestartet. Das hat schnelles Handeln wesentlich erleichtert und man hat in der aktuellen Krise auch schneller gelernt. Hoffentlich sind wir bei der nächsten Pandemie ebenfalls auf diesem Niveau. Wir sollten zum Beispiel jungen österreichischen Wissenschaftern PhD-Programme an internationalen Topuniversitäten finanzieren und ein unabhängiges Public-Health-Forschungsinstitut gründen.

STANDARD: Die Stars in der Krise waren die Virologen und die Mathematiker. Wer fehlte aus Public-Health-Sicht?

Stigler: In einer Pandemie sind Virologen und Mathematiker wichtig, jedoch nicht ausreichend. Public-Health-Fragestellungen verlangen nach einem interdisziplinäreren Zugang. Dazu gehören neben der Medizin und Pflegewissenschaften unter anderem auch die Epidemiologie, Sozial- und Politikwissenschaften, Ökonomie und Kommunikationswissenschaften. Die Beratungsgremien sollten alle Aspekte, die unsere Gesellschaft und unsere Gesundheit beeinflussen, inkludieren. Keine Berufsgruppe kann alles abdecken, keine Einzelperson kann alle Probleme verstehen, die uns diese Pandemie beschert hat.

Wiedermann-Schmidt: Die Mathematiker können ja nur dann gut arbeiten, wenn sie die richtigen Informationen und Daten bekommen. Im schlimmsten Fall werden Szenarien errechnet, die nicht mit der Epidemiologie einhergehen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Basisreproduktionszahl RO, über die so viel gesprochen wurde. Es ist gut, sie zu kennen, aber wenn sich die Erkrankung in Clustern ausbreitet, dann ist RO nicht aussagekräftig.

STANDARD: Gab es aus Ihrer Sicht falsche politische Maßnahmen?

Wiedermann-Schmidt: Die langen Schulschließungen. Es war sicher eine schwierige Entscheidung und vielleicht auch für eine kurze Zeit notwendig. Aber aufgrund der Daten aus den Niederlanden und Norwegen hätte man im April bereits sehen können, dass Kinder zwar Teil der Infektionskette sein können, aber keine Cluster verursachen. Das hat irrsinnig viele soziale Probleme und Belastungen speziell auch für Frauen im Homeoffice mit sich gebracht. Die hätte man sich vielleicht ersparen können.

Stigler: Das Thema Schulschließungen ist wissenschaftlich noch immer sehr umstritten. Ich denke nicht, dass Schulen für das Infektionsgeschehen irrelevant sind. Aber es war sicher ein Fehler, zuerst Geschäfte aufzusperren und dann erst die Schulen. Hier wurden die falschen Prioritäten gesetzt. Aus Public-Health-Sicht gibt es nichts Wichtigeres für die Gesundheit einer Gesellschaft, als ihren Kindern eine gute Kindheit zu ermöglichen. Dazu müssen wir Eltern finanziell unterstützen und Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen auch die Wertschätzung geben, die sie verdienen. Ich hoffe sehr, dass wir das jetzt endlich einmal ernst nehmen und eine Kindergesundheitsstrategie erarbeiten, die dann auch wirklich umgesetzt wird.

STANDARD: Was ist im Augenblick Ihre größte Sorge?

Stigler: Die nächsten Monate werden entscheidend sein, um den gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden dieser Pandemie möglichst gering zu halten. Ganz ohne Schaden wird es nicht gehen. Deshalb ist meine größte Sorge, dass der Politik der Mut fehlen wird, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Werden die Entscheidungen wirklich wissensbasiert, abwägend und vorausschauend erfolgen? Sind unsere Testkapazitäten bereits auf steigende Infektionszahlen vorbereitet? Wir werden es wohl bald wissen.

Wiedermann-Schmidt: Mich beunruhigen auch sehr die Fabriken und Arbeitsplätze, wo viele Menschen auf engem Raum unter schlechten Bedingungen zusammenarbeiten. Viele von ihnen sind nicht einmal angemeldet und versichert. Hier treten die neuen Cluster auf. Das war schon beim Ausbruch in Italien ein Thema, wurde aber politisch rasch vom Tisch gewischt. Diese Arbeitsbedingungen sind nicht in Ordnung, und hier werden Menschen ausgebeutet. Aber darüber reden wir viel zu wenig, weil es ein Wirtschaftsthema ist. Aber es ist auch ein soziales und gesundheitliches Thema. Hier brauchen wir neue Konzepte. (Andrea Fried, CURE, 6.9.2020)