Rudolf Anschober hat die Corona-Krise bislang mit Ruhe gemeistert, auch dann, wenn Fehler gemacht wurden. Er setzt auf Transparenz.
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STANDARD: Herr Bundesminister, was sagen Sie derzeit eigentlich den Menschen, die Sie fragen, wie es in den nächsten Monaten in der Corona-Krise weitergehen wird?

Rudolf Anschober: Das wollen derzeit tatsächlich sehr viele von mir wissen. Die Leute sind durch die letzten Monate verständlicherweise verunsichert, aber auch neugierig, wie es weitergehen wird. Ich antworte dann immer, dass es von jedem Einzelnen abhängt. In den letzten Monaten ist viel passiert, wir sind gut aufgestellt. Wenn sich alle an die Hygienevorschriften halten, Distanz wahren und den Mund-Nasen-Schutz tragen, dann haben wir eine realistische Chance, gut durch den Herbst und Winter zu kommen – ohne einen zweiten österreichweiten Lockdown. Ich glaube nicht, dass diese Maßnahme noch einmal notwendig sein wird, jedenfalls wollen wir sie unter allen Umständen verhindern.

STANDARD: Warum sind Sie so zuversichtlich?

Anschober: Weil wir im Gegensatz zu Februar gelernt haben, wie wir Situationen stabilisieren können. Wir kennen die Risikofaktoren, können gezielter vorgehen, die Lernkurve der letzten Monate war enorm.

STANDARD: Das sagen Sie, obwohl die Infektionszahlen steigen und kein Tag vergeht, ohne dass von der zweiten Welle die Rede ist?

Anschober: Wir befinden uns derzeit in der Phase 3 einer Pandemie, also jener Etappe, an der wir mit einem Steigen der Infektionszahlen gerechnet haben. Wenn sich die Menschen treffen, war zu erwarten, dass die Infektionszahlen nach oben gehen werden, aber es findet bisher alles im Rahmen statt. Von einer zweiten Welle sprechen wir dann, wenn die Infektionszahlen so wie im März exponentiell ansteigen. Das ist derzeit (Mitte August, Anm.) überhaupt nicht der Fall.

STANDARD: Apropos: Lassen Sie uns einmal kurz zurückblicken auf das Frühjahr. Vielen wird der 12. März 2020, also der Tag des Shutdowns, in Erinnerung bleiben. Wann wurde Ihnen eigentlich die Tragweite dieser Gesundheitskrise bewusst?

Anschober: Irgendwann, ich glaube, es war Mitte Februar, habe ich einen Bericht von zwei italienischen Ärztinnen gelesen, die sehr nüchtern die Situation in ihrem Krankenhaus schilderten. Es klang aber trotzdem wie ein Bericht aus dem Krieg. Das hat mir, glaube ich, einen Kick gegeben. Wahrscheinlich bleiben mir auch die beiden Tage vor dem 12. März eher in Erinnerung. Der Entscheidung gingen zwei Tage intensiver Diskussionen voraus.

STANDARD: In wunderbarer Eintracht mit dem Koalitionspartner?

Anschober: Wir waren uns einig, dass, wenn wir uns für einen Shutdown entscheiden, wir dafür eine breite Allianz brauchen. Wir haben also vor dem 12. März mit allen Parteichefinnen, dem Bundespräsidenten und den Landeshauptleuten gesprochen. Im Nachhinein haben wir richtig gehandelt. Und auch zum richtigen Zeitpunkt. Denn Zeit spielt bei der Ausbreitung dieses Virus eine sehr große Rolle. Damals haben wir das vermutet, heute wissen wir es.

STANDARD: Weil Sie es gerade ansprechen: Auf welcher Basis wurde eigentlich die Entscheidung getroffen?

Anschober: Im Nachhinein war die schlichte Inexistenz von gesicherten Fakten in wichtigen Bereichen die größte Herausforderung. Es gab keine Erfahrungen, keine echten Erfolgsmodelle, die hätten kopiert werden können. Das Virus war damals ja erst wenige Wochen bekannt. Erschwerend war zudem der Umstand, dass sich die Positionen der internationalen Wissenschaft in einzelnen Punkten laufend verändert haben.

STANDARD: Sie meinen beim Mund-Nasen-Schutz?

Anschober: Genau, da hat sich plötzlich die Meinung wichtiger Institute um 180 Grad gedreht. Normalerweise arbeiten wir in der Politik faktenbasiert, denn nur so können wir Maßnahmen vor den Leuten auch rechtfertigen. Wenn neue Erkenntnisse das bislang gültige allgemeine Wissen teilweise obsolet werden lassen, ist dieses Prinzip unmöglich. Im Grunde war und ist diese ganze Pandemie ein einziger riesiger Lernprozess.

STANDARD: Würden Sie im Rückblick Dinge anders machen?

Anschober: In unsicheren Situationen Sicherheit geben geht eigentlich nur, wenn man transparent bleibt. Ich habe immer die Fakten dargestellt und zugegeben, dass wir da eine Gratwanderung machen. Wir brauchen das Vertrauen der Menschen. Und ich denke, dass uns das gut gelungen ist.

STANDARD: Ein häufiger Kritikpunkt ist, dass die Regierung viel zu stark auf Angst gesetzt und dadurch Kollateralschäden in vielen Bereichen hervorgerufen hat. Leute hatten Angst davor, zum Arzt zu gehen.

Anschober: Wir haben korrekt die Realität in unseren Nachbarländern dargestellt, und klar, es war dies eine Gratwanderung, die bei Einzelnen auch Angst ausgelöst haben mag.

STANDARD: Sind die Menschen mittlerweile zu leichtsinnig?

Anschober: Das sehe ich nicht generell so. Jeder von uns hat natürlich die Sehnsucht nach einem normalen Leben, das ist ganz klar. Viele sind müde und genervt. Doch seit wir die Maskenpflicht im Supermarkt wieder eingeführt haben, sehen wir, dass sie auch in den Öffis wieder viel disziplinierter getragen werden. Es erinnert einfach an die Infektionsgefahr. Ich fahre ja sehr oft mit dem Zug und rede gerne mit den Zugbegleitern. Und die berichten mir, dass es kaum jemanden mehr gibt, der ohne Mund-Nasen-Schutz einsteigt. Wir können diese Krise ausschließlich durch diese Solidarität meistern. Diese Grundstimmung und die Bereitschaft, konsequent zu sein, müssen wir schaffen. Wenn die Indoor-Saison wieder beginnt, werden wir uns besonders zusammenreißen müssen.

STANDARD: Wie soll das gelingen?

Anschober: Das Coronavirus beeinträchtigt viele komplett unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und verbreitet sich auch lokal sehr verschieden. Anfang September starten wir mit der Corona-Ampel, die den Menschen eine Art Orientierung liefern soll. Die Frage, wie es in dem Bezirk, in dem jemand wohnt, weitergeht, soll damit besser als bisher beantwortet werden. Und es soll auch Spielraum für die Einschätzung der Gesundheitsämter vor Ort geben.

STANDARD: Sie setzen also auf ein föderalistisches Prinzip?

Anschober: Das ist nicht die Grundregel, kann aber erforderlich sein, denn die Ausbreitung kann regional sehr unterschiedlich sein. Wir hatten kürzlich einen Cluster in einem fleischverarbeitenden Betrieb in Horn. Dort den ganzen Bezirk zu sperren war nicht notwendig, weil die Infektion ausschließlich in diesem Unternehmen stattfand. Solche Zusammenhänge müssen die lokalen Behörden einbringen. Je regionaler das Pandemiemanagement, umso mehr können die Leute die Maßnahmen mittragen.

STANDARD: Grün, Gelb, Orange und Rot: Wird es dazugehörende Maßnahmenpakete geben?

Anschober: Ja, es wird für jede Ampelfarbe klare Maßnahmen für alle Bereiche geben. Diese Leitlinien werden gerade von der Ampelkommission finalisiert und werden Empfehlungscharakter haben.

STANDARD: Wird die Ampel auch bei der Frage der Schulen eine Rolle spielen?

Anschober: Auch. Wir werden die Schulen im Herbst wieder aufsperren, weil es gut für die Kinder ist. Es stellt sich immer klarer heraus, dass Schulen kein zentraler Risikobereich für Ansteckungen sind. Wenn die Zahlen steigen, werden die Schulen auch nicht automatisch schließen. Wenn es in einer Klasse Infektionsfälle gibt, müssen wir rasch und effizient mit den Mitteln des Kontaktpersonenmanagements reagieren. Dabei wollen wir aber Schulschließungen vermeiden.

STANDARD: Die Pandemie hat für viele das Leben sehr schwierig gemacht. Wo haben die drastischen Maßnahmen eigentlich einen großen Schaden angerichtet?

Anschober: Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hatten Nebenwirkungen, ein Problembereich war ganz sicher die Pflege. Wir wollten und wollen diese besonders vulnerable Gruppe schützen. Aus Sicht derer, die geschützt werden sollten, ergab sich die drohende Gefahr der Vereinsamung. Darauf haben wir rasch reagiert. Nach einer umfassenden Evaluierung liegen nun Vorschläge zur Optimierung der Situation in Pflege- und Altenheimen für die Zukunft vor. Wir wollen die Möglichkeiten schaffen, um die Kommunikation in diesen Institutionen zu verbessern oder auch die Mitarbeit der vielen Freiwilligen besser zu organisieren. Auch bei der allgemeinen Versorgung von Kranken evaluieren wir derzeit die Nebenwirkungen der Pandemiemaßnahmen.

STANDARD: Sie meinen Kollateralschäden. Wie wollen Sie die in Zukunft verhindern?

Anschober: Sinnvoll wäre eine Art Gesundheitsfolgenabschätzung für sämtliche Pandemiemaßnahmen, denke ich. Es ist auch ein Weg, unser Instrumentarium zu schärfen und beim nächsten Mal die Versorgung noch besser gewährleisten zu können. Im Lockdown musste vieles in einem großen Tempo entschieden werden. Wir können aus all diesen Erfahrungen lernen und in ähnlichen Situationen in Zukunft noch besser werden.

STANDARD: Was ist Ihre größte Sorge?

Anschober: Wir sollten in Zusammenhang mit dem Virus Sprache sehr bedacht wählen. Keiner ist schuld, wenn er erkrankt. Das Virus verbreitet sich nach dem Zufallsprinzip, und niemand weiß, ob er oder sie ein Superspreader sein wird oder nicht. Es trifft ja auch Leute aus allen Lebensbereichen. Und wichtig wird sein, dass niemand das Gefühl hat, die Erkrankung geheim halten zu müssen. Das wäre für das Pandemiemanagement geradezu kontraproduktiv. Ein offener Umgang ist wichtig, denn nur so können wir die Verbreitung kontrollieren. Wir kommen nur mit Solidarität und gemeinsamer Verantwortung weiter.

STANDARD: Wie lange wollen Sie den Bürgern und Bürgerinnen die Einschränkungen noch zumuten?

Anschober: Wir werden bis zu einer Impfung durchhalten müssen. Die bisher vorliegenden Daten machen mich optimistisch.

STANDARD: Wann rechnen Sie mit einer Impfung?

Anschober: Realistisch ist das erste Quartal 2021, höre ich von Experten. Sie erwarten auch, dass es wahrscheinlich sogar verschiedene Impfstoffe geben könnte, die parallel auf den Markt kommen werden. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sie sämtlichen Sicherheitsanforderungen zu hundert Prozent entsprechen. Das versteht sich von selbst.

STANDARD: Wird Österreich als ein vergleichsweise kleines und weniger stark betroffenes Land überhaupt genug davon bekommen?

Anschober: In Sachen Impfungen bin ich sehr froh, dass die Verhandlungen nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern auf EU-Ebene stattfinden. Das heißt: Die gesamte EU wird durch eine Stimme vertreten. Das ist strategisch wesentlich günstiger, als wenn jeder einzeln verhandeln würde. Wir können so die Marktmacht des EU-Wirtschaftsraums viel besser nutzen. (Karin Pollack, CURE, 25.8.2020)