"Ich bin Feministin, nicht weil ich gegen andere, sondern für eine gerechte Gesellschaft bin" – sagt Ines Stilling, sie ist seit Anfang Juni die neue Generalsekretärin im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.

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Beschleunigter Unterhalt oder Betreuungsfreistellungen sind wichtige Instrumente, um Frauen zu entlasten, sagt die Expertin.

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Es gibt in jedem Leben ein paar große Überraschungsmomente. Für Ines Stilling fand einer davon Anfang Juni 2019 statt. Als Sektionschefin im Bundeskanzleramt, zuständig für Frauenfragen, wurde sie in die Präsidentschaftskanzlei gerufen. Sie wusste, dass dort gerade eine neue Übergangsregierung zusammengestellt wurde, "und dass meine Expertise in der Frauenpolitik in diesem Forum gefragt war, empfand ich als sehr positives Zeichen," erzählt sie.

Womit sie aber nicht gerechnet hätte: dass ihr in diesem Termin dann auch gleich der Posten der Frauenministerin angeboten wurde. "Normalerweise hätte ich wahrscheinlich erst einmal eine Weile über das Angebot nachgedacht, doch in dieser Situation habe ich einfach zugesagt," erinnert sie sich, "allein schon wegen der Sache."

Großes Vorbild

Ines Stilling arbeitet seit 2007 in der Frauenpolitik, das Thema war ihr immer ein Anliegen. Sie wurde 1976 in Graz geboren und wuchs dort in einem Arbeiterbezirk auf. Eine wichtige Bezugsperson ist bis heute ihre Großmutter, eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die stets eine klare Haltung hatte und zu dem steht, was sie sagt. Deshalb ist die heute 90-jährige für die neue Generalsekretärin im Bundesministerium auch ein großes Vorbild.

Dass sie Juristin wurde, war mehr oder weniger Zufall, "denn für technische Physik fehlte mir das Talent zur darstellenden Geometrie und für Medizin die wichtige Voraussetzung, Blut sehen zu können". So studierte sie Rechtswissenschaften in Graz, "und es hat mir schnell richtig Spaß gemacht". Nach dem Studium absolvierte sie das Gerichtsjahr.

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Eines Tages wollte sie aber dann doch raus aus der Steiermark und übersiedelte nach Wien, wo sie als Leiterin der Personaladministration und Controlling eines großen Unternehmens begann. "Ich mag Menschen", sagt sie – und dort lernte sie viele unterschiedliche Lebenswirklichkeiten und die Probleme kennen.

Arbeitsrecht, erkannte Stilling, interessiert sie mehr als alles andere. So sehr, dass sie 2003 beschloss, in die Arbeiterkammer zu wechseln, wo sie sich in die Themen Mutterschutz und Kinderbetreuungsgeld vertiefte.

Als die Regierung 2007 die erste Novelle zum Kinderbetreuungsgeld in Angriff nahm, holte sie die damalige Frauenministerin Doris Bures ins Bundeskanzleramt, ein Jahr später wechselte sie zu Gabriele Heinisch-Hosek und übernahm die Gleichstellungsagenden. Die Regierungskonstellationen sollten in den kommenden Jahren wechseln und damit auch die Ministerien, in denen Ines Stilling Frauenfragen und Gleichstellung verantwortete.

Frauen mitdenken

"Ich bin Feministin," sagt sie mit großer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, "nicht weil ich gegen andere, sondern weil ich für eine gerechte und gleichberechtigte Gesellschaft für alle bin." Während der Corona-Krise habe man nur allzu deutlich gesehen, wie belastet vor allem viele Frauen waren.

Haushalt, Homeoffice oder systemrelevante Arbeit, Kinderbetreuung und Homeschooling: "Bei der Evaluierung der Corona-Maßnahmen muss die Position der Frauen und Kinder viel stärker mitgedacht werden," ist sie überzeugt. Vor allem auch für die Zukunft. Beschleunigter Unterhalt oder Betreuungsfreistellungen seien wichtige Instrumente, um Frauen zu entlasten. Sorgen bereiten ihr geringfügig Beschäftigte, "weil sie nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld haben".

Zusammenführen

Generell zeige sich ja gerade auch, dass sich das Coronavirus in jenen Bereichen der Gesellschaft etabliert, in denen prekäre Arbeitssituationen herrschen und die Leute es sich nicht leisten können, krank zu sein.

Es ist gesichertes Wissen, so Stilling, dass die ökonomische Situation maßgeblich auf den Gesundheitszustand einwirkt. "Health in all policies" ist deshalb eine Devise, die bei der Bewältigung der Corona-Krise noch viel stärker als bisher mitgedacht werden müsse. Existenzsicherung wird eine zentrale Rolle spielen.

Expertise zusammenführen

Insofern sieht Ines Stilling ihre neue Aufgabe als Generalsekretärin im Sozialministerium in manchen Bereichen als eine Art Weiterführung ihrer bisherigen Arbeit. Ihre zwei großen Ziele im neuen Amt: mit dem gesamten Ministerium und seinen vielen wichtigen Agenden Minister Rudolf Anschober und sein Team bestmöglich zu unterstützen, vor allem dann, wenn im Zuge der Corona-Pandemie die Expertise unterschiedlicher Sektionen zusammengeführt werden muss.

Parallel will sie aber dazu beitragen, das Regierungsprogramm weiterhin umzusetzen und die Zusammenarbeit auf EU-Ebene zu intensivieren. "Unsere Aufgabe in der Verwaltung ist es, Fachmeinungen zu den unterschiedlichen Themen zur Verfügung zu stellen und die politische Ebene zu beraten. Um meine Privatmeinung geht es in diesem Job eigentlich nicht," erklärt Stilling ihr berufliches Selbstverständnis.

Gleichberechtigt

In ihrer persönlichen Lebensgestaltung versucht sie, Gleichstellung zu verwirklichen. "Ich arbeite sehr gerne, teile mir aber auch Zeit für Familie und Freunde ein", sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann kümmert sie sich um die beiden Kinder, die in die Volksschule gehen.

Sie ist überzeugte Nutzerin öffentlicher Verkehrsmittel und fährt jeden Tag von Niederösterreich ins Ministerium. Nur eines, das kann sie schon sagen, wird in nächster Zeit vielleicht zu kurz kommen. Sie liest gerne Biografien, am liebsten natürlich über Menschen, die die Welt nachhaltig verändert haben.

Viel toleranter

"Die Gesellschaft ist in Bewegung", sagt sie und meint damit die Gleichstellung der Frauen. Sie überprüft das jedes Jahr am 1. Jänner, wenn sie sich das Neujahrskonzert ansieht und die Frauen im Orchester zählt, die erfreulicherweise mehr werden. Die nächste Generation in unserer Gesellschaft scheint viel toleranter zu sein, zumindest hat Ines Stilling diese Beobachtung gemacht.

Sie kennt viele engagierte junge Männer, die sich für Gender Equality einsetzen. "Ich werde dranbleiben", sagt sie, denn bei vielen ihrer neuen Agenden im Gesundheitsministerium wie etwa der Pflege wird Frauenpolitik Teil einer Lösung sein. (Karin Pollack, CURE, 5.9.2020)