Den Überblick haben: In Außervillgraten in Osttirol hat man Erfahrung mit Naturkatastrophen, dem Coronavirus ist Gernot Walder auf der Spur.

Foto: Karin Pollack

Die Täler in Osttirol sind tief, aber malerisch. Wer nach Lienz Richtung Italien fährt und kurz vor Sillian rechts abbiegt, kann sich ein Bild davon machen. Ins Villgratental kommt man nur über eine sehr schmale Straße. Rechts und links ragen bewaldete Steilhänge empor, es ist eine raue Landschaft. Letzten November hat ein plötzlich einsetzender Frost tausende Bäume wie Zahnstocher einknicken lassen. Sie liegen noch überall auf den Steilhängen herum, unmöglich, sie von dort abzutransportieren.

"Wenn Sie ins Dorf kommen, rauf zur Kirche und dann ist ein Schild", hat der Allgemeinmediziner Gernot Walder am Telefon in feinstem Osttirolerisch gesagt. Wer die malerischen Bauernhäuser von Außervillgraten in der Talsenke unter sich gelassen hat, fährt eine steile Straße sehr lange bergauf. "Unterwalden 30".

Auffällig für diese ansonsten naturbelassene Gegend sind die weißen Bodenmarkierungen auf dem Asphalt vor Walders Haus, die viele Parkplätze anzeigen. Auch brummen – für die kühle Gebirgsgegend ungewöhnlich – drei große Klimaanlagen mit dem Gezwitscher der Vögel um die Wette.

Gernot Walder ist Chemiker, Hygieniker, Notarzt und Labormediziner.
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Hier auf 1500 Meter Seehöhe betreibt der Allgemeinmediziner und Hygieniker Walder neben seiner Tätigkeit als Notarzt Österreichs höchstgelegenes mikrobiologisches Labor. "Wahrscheinlich sogar das höchste Labor Europas", sagt er, der gerade von einem Einsatz von einem Patienten zurückgekommen ist. "Eine allergische Reaktion."

Mit seinem schwarzen Shirt und den dunklen Hosen sieht Gernot Walder eher wie ein Extremsportler denn ein Arzt aus. Er spricht leise, verpackt möglichst viel Information in jeden Satz. Und alles, was er sagt, klingt so, als sei das, was er hier oben auf dem Berg macht, das Selbstverständlichste auf der Welt.

Überblick von Beginn an

Seit Anfang Februar herrscht bei ihm Hochbetrieb. Fast täglich werden sämtliche PCR-Testproben für den direkten Erregernachweis aus Osttirol, Kärnten und teilweise auch aus Südtirol hier heraufgeliefert, pipettiert und analysiert. Circa 600 Auswertungen pro Tag schaffen die 15 Mitarbeiter des Labors.

Walder hat von hier oben nicht nur das fantastische Bergpanorama, sondern auch die Corona-Situation im Blick. Seit Ausbruch der Pandemie wurden in Osttirol 153 Menschen positiv getestet, es gab zwei Todesfälle im Pflegeheim und aktuell (Mitte Juli) "sind wir hier Corona-frei". Walder ist auch Mitglied im lokalen Krisenstab.

Schon Anfang Jänner, als der Markt im chinesischen Wuhan geschlossen wurde, war ihm klar, dass "das pandemisch werden könnte". Der Ausbruch habe ihn an die Schweinegrippe 2009 erinnert. Am Lienzer Spital, in dem Walder für die Hygiene verantwortlich ist, hat er bereits Ende Jänner alles in die Wege geleitet, damit "wir infektionstechnisch gut aufgestellt sind, wir haben auch im Pflegeheim einen Trakt zur Isolierung der Infizierten freigeräumt".

In Osttirol sei man Naturkatastrophen gewöhnt, die Leute hätten gelernt, damit umzugehen. Wer in den engen Tälern mit der permanenten Gefahr von Muren, Steinschlag und Lawinen lebt, den kann ein neues Coronavirus nicht erschrecken. "Medizin ist Katastrophenvorsorge", ist Notarzt Walder überzeugt. Und nicht, dass die Pandemie jetzt schon vorbei wäre, "aber es geht darum, ein gemeinsames Risiko zu regulieren und auf lokaler Ebene wieder eine Normalität reinzubekommen", sagt er.

Steil ist es in Außervillgraten. Man sei Naturkatastrophen gewöhnt, sagt Walder.
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Wie am Schnürchen

In Walders Labor jedenfalls ist alles bestens organisiert. Der Boden ist zitronengelb, die MTA-Assistentin Steffi extrahiert gerade mit einer Pipette die Proben, die am Vormittag geliefert worden sind. Ihre Kollegin Simone übernimmt sie, um sie für die Analyse in den beiden PCR-Maschinen fertig zu machen.

Daneben hinter einer Glaswand finden serologische Untersuchungen statt, und hinter einer weiteren Schleuse ist der besonders geschützt L3-Bereich des Labors. Wenn eine PCR-Probe positiv ist, kann Walder die Infektiosität, also wie ansteckend ein Infizierter ist, in diesem Sicherheitsbereich eruieren. Er macht dort einen Neutralisationstest mithilfe von Flaviviren.

"Dafür habe ich ein Patent eingereicht", sagt er. Weniger als ein Drittel der Patienten ist hochinfektiös. Das erkennt man mittels einer quantifizierenden PCR. Ein Drittel der Infizierten ist mäßig ansteckend, sie geben das Virus meist nur in der Familie weiter, und der Rest infiziert keinen.

Im Erdgeschoß seines Wohnhauses werden PCR-Tests ausgewertet.
Foto: Karin Pollack

Bei Kindern, das sei das Interessante, ist die Erkrankung oft so schnell vorbei, dass die PCR-Testungen eine Infektion entweder noch nicht oder nicht mehr nachweisen können. "Ich würde mir trauen, die Schulen im Herbst wieder aufzumachen", sagt Walder abwägend, obwohl er das Virus ganz und gar nicht unterschätzt, "weil es unberechenbar ist". Es verbreite sich leicht, sei aber nicht sehr pathogen, also krankmachend.

Nur ein relativ kleiner Prozentsatz von Infizierten wird schwer krank. Und noch etwas unterscheidet Sars-CoV-2 von anderen Viren: Eine Infektion folgt keinem klaren Ablauf so wie die Influenza und kann vor allem auch unterschiedliche Organe betreffen. "Wir müssen noch vieles herausfinden", sagt er und sieht sich als Teil in diesem Prozess.

Bergwertung gewöhnt

"Es ist ganz egal, wo die PCR-Tests hingebracht werden müssen", sagt Walder, und auch seine Sekretärin setzt nach: "Wir in Osttirol sind steile Straßen gewöhnt." Dass die PCR-Auswertung hier auf 1500 Meter Seehöhe passiert, ist unmittelbar mit Walders persönlichem Werdegang verbunden. Der begann mit der Liebe zu Mineralien.

Gleich neben dem PCR-Testraum ist sein sogenanntes Steinzimmer, wo die Bergkristalle seines Vaters in Vitrinen ausgestellt sind. "Mein Lebenslauf war halt nicht ganz so gerade", gibt er zu und meint damit seine erste Berufsentscheidung, in Innsbruck Chemie zu studieren.

Von der Chemie kam er zur Mikrobiologie, weil ihn der Abbau von Boden durch Pilze und Bakterien interessierte. Und weil er seit seinem 18. Lebensjahr immer auch bei der Bergwacht und bei der Feuerwehr in Außervillgraten im Einsatz war, reizte ihn als fertiger Magister der Chemie dann das Medizinstudium.

"Zerscht hab i mi net drübertraut", sagt er, weil er, der gerade eine Familie gegründet hatte, schließlich auch Geld verdienen musste. Dann hat er sich aber organisiert, hat tagsüber an der Uni in Innsbruck gearbeitet und nachts Anatomie, Pathologie und alles andere gestuckt, 1999 hatte er das Studium in der Tasche.

Eigenes Labor

Danach, erzählt Walder, ist er in die Notfallmedizin hineingerutscht und hat verunfallte Deutsche aus Südtirol nach Hause begleitet. "Aber Notarzt war nicht meine Hauptschiene, ich wollte in die klinische Chemie an der Med-Uni Innsbruck." Da dort kein Job frei war, aber am Institut für Hygiene jemand gesucht wurde, nahm Gernot Walder dann diese Abzweigung.

Professionelle Reinräume mit Schleusen in Unterwalden 30.
Foto: Karin Pollack

Und weil er alles, was er macht, stets mit großer Akribie und Genauigkeit angeht, vertiefte er sich schon bald in die Labormedizin, konkret in die Serologie. Wissenschaftlich gelang ihm und seinem Team 2000 der Nachweis, dass es FSME-infizierte Zecken geschafft hatten, in Vorarlberg endemisch zu werden. Zoonosen, also von Tieren übertragene Krankheiten, wurden Walders Spezialgebiet. Irgendwann wollte er ein L3-Labor, also eines, in dem man Viren und Bakterien zu Forschungszwecken züchten und einsetzen darf.

Weil dafür die Mittel in Innsbruck fehlten und Walder aber "ein bisschen Erspartes gehabt hat", hat er sich 2005 entschlossen, sich sein eigenes zu bauen. Die Bewilligung sei "ein echter Tango" gewesen. Er wolle gar nicht im Detail erzählen, welche Hürden er fünf Jahre lang aus dem Weg räumen musste. Doch 2010 war es so weit.

Seit damals verdient er sein Geld mit einer Art medizinischem Patchwork: Er macht in Außervillgraten die Infektionsdiagnostik für das Lienzer Spital, betreibt das Labor und beschäftigt sich intensiv mit epidemiologischen Fragestellungen, also der Verbreitung von Keimen in der Bevölkerung. Quasi nebenbei arbeitet er als Notarzt und Allgemeinmediziner für die Leute in den Osttiroler Tälern. Sie vertrauen ihm.

In Kontakt mit den Leuten

Vor und während des Lockdowns war er viel unterwegs. Alle zwei Tage schaute jemand bei den Infizierten in Hausquarantäne vorbei, darunter waren auch zwei 80-Jährige, die die Krankheit gut überstanden haben. Er betreute Familien, deren Kinder isoliert werden mussten, und hebt eigentlich immer sein Telefon ab, das wirklich sehr oft läutet.

"Als Notarzt erlebst und verstehst du viel", sagt er und erzählt von einem nächtlichen Einsatz. Ein Kellner hatte ihn gerufen, weil eine Ader in seinem Auge geplatzt war. "Und dann redest mit ihm eine halbe Stunde und erfährst, dass er seit Wochen jeden Tag sechs Aspirin nimmt, weil er so das Fieber runterkriegt und im Hotel arbeiten gehen kann", erzählt er. Kranksein im Tourismus gehe nicht. "Corona ist eine Seuche, die sich rund um prekäre Arbeitssituationen immer weiter entzünden wird", ist Walder sicher.

Wären die Jalousien offen, würde der Blick über die Villgratner Berge schweifen.
Foto: Karin Pollack

Sein zweiter Kritikpunkt: Österreich habe keinen diagnostischen Plan zur Infektionskontrolle. "Das wurde alles zusammengespart." Er hielte einen Stellenplan für Infektionsdiagnostik auf Landesebene samt Warndienst für dringend nötig. Und er ist überzeugt, dass Medizin Katastrophenvorsorge ist und man deshalb in allem stets Reserven anlegen muss. "Gesundheitsversorgung kann nicht nur effizient sein."

Zwischen Sicherheit und Freiheit

Und die Angst vor den Naturgewalten müsse man eben überwinden. Darin hätten die Osttiroler mit ihren steilen Hängen, von denen jedes Jahr wieder irgendwo Muren oder Lawinen abgehen und die Täler von der Außenwelt absperren, lange Erfahrung. "Wer in den Villgratner Bergen aufwächst, der weiß, dass sich das Leben zwischen zwei Polen abspielt: Auf der einen Seite hast du die Sicherheit, auf der anderen Seite die Freiheit, beides gemeinsam gibt es nicht."

Solange die Infektionsketten unter Kontrolle, die Pflegeheime gut geschützt und die Intensivstationen nicht überlaufen sind, ist er zuversichtlich. Denn noch etwas haben die Leute in den Bergen gelernt: Wenn Katastrophen passieren, helfen die Leute zusammen.

Die beste Hilfe ist immer noch die Selbsthilfe, und zwar auf lokaler Ebene, denn überall ist es eben ein bisschen anders. "Es geht darum, ein gemeinsames Risiko zu regulieren." Gernot Walder wird den Überblick bewahren. (Karin Pollack, CURE, 13.9.2020)