STANDARD: Lassen Sie uns kurz Revue passieren: War der Lockdown notwendig?

Im März mussten sehr harte gesundheitspolitische Verordnungen erlassen werden, darin sind sich Peter Hacker und Martina Rüscher einig.
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Peter Hacker: Der Lockdown ist umstritten, und wir könnten die nächsten Jahrzehnte streiten, ob er sinnvoll oder unnötig war. Faktum ist, er hat eine Wirkung erzielt. Wir in Wien haben ihn mitgetragen. Aber wir haben damit die Virusepidemie nicht abgeschafft. Alle, die gehofft haben, wir könnten die Infektionen auf null herunterschrauben und uns in unserem kleinen Häuschen namens Österreich abschotten, haben nicht verstanden, worum es geht. Es ging lediglich darum, die dramatisch nach oben schnellenden Infektionszahlen zu bremsen. Der Preis dafür ist, dass die Epidemie viel länger dauern wird. Ich bin nicht überrascht, dass die Zahlen wieder nach oben gehen. Wir haben es mit einem skrupellosen und moralbefreiten Virus zu tun.

STANDARD: Wo hat Sie Covid-19 besonders getroffen?

Was beide noch sagen: Die Kommunikation mit der Bevölkerung muss verbessert werden.
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Martina Rüscher: In Vorarlberg betrafen die Cluster vor allem Reiserückkehrer und Leasingarbeiter, die in gemeinsamen Unterkünften wohnen. Das war eine Herausforderung. Sorgen bereiteten uns auch die 24-Stunden-Betreuungskräfte, für die es keine österreichweiten Vorgaben gab. Wir haben daher eine eigene Teststrategie entwickelt.

Hacker: Prekäre Arbeitsverhältnisse und Lebenssituationen hatten wir so nicht am Radar. Es sind 10.000 Menschen, die schlicht nichts verdienen, wenn sie nicht in der Arbeit sind und das Wort Krankenstand nicht einmal kennen. Das ist sowieso ein Problem, aber in der Corona-Krise ganz besonders. Die Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die aus China gekommen sind, waren ja schon in Italien ein Thema.

STANDARD: Im Herbst kommt ein Ampelsystem. Ist das hilfreich?

Rüscher: Die bundesweite Ampel macht Sinn, wenn wir Leitlinien erhalten. Die sollen aber nicht 1:1 umzusetzen sein. Wir wollen selbst entscheiden, was für die Region sinnvoll ist. In Vorarlberg wurde schon vor mehr als zwei Monaten mit einer Ampel begonnen, weil wir gemerkt haben, dass die Bevölkerung mit den Maßnahmen nicht mehr mitgeht. Sie versteht nicht, dass man jetzt in ganz Österreich wieder Mund-Nasen Schutz tragen muss, obwohl in Vorarlberg die Infektionszahlen über lange Zeit sehr niedrig waren. Das müssen wir verständlich machen. Dabei hilft die Ampel. Die Maßnahmen müssen aber unbedingt auf Gemeindeebene oder Regionen heruntergebrochen werden. Wenn wir im Kleinwalsertal eine erhöhte Warnstufe haben, kann ich nicht den gesamten Bezirk Bregenz mit unseren Weltbetrieben, die dort liegen, lahmlegen.

Hacker: Zwischen Wien, Niederösterreich und Burgenland bewegen sich täglich rund 350.000 Menschen. Was soll da ein Herunterbrechen auf die Josefstadt bringen? Es hat mir auch noch niemand erklären können, was ich machen soll, wenn es im 13. Bezirk einen Cluster gibt. Die Westautobahn sperren? Ich bin nicht so glücklich mit dem Ampelbegriff, weil er das Thema banalisiert. Ich unterstütze aber das Instrument, weil wir dringend eine bessere Systematik und auch zusätzliche Parameter brauchen, um die Pandemie zu erfassen.

STANDARD: Eine Kennzahl der Ampel sind die freien Intensivbetten.

Hacker: Das ist in meinen Augen kein sinnvoller Parameter, weil natürlich niemand Betten in Intensivabteilungen freistehen lässt, wenn sie benötigt werden. Wenn ich wieder einen großen Ausbruch habe wie im Februar mit über 200 Covid-19-Patienten in Wiener Spitälern, dann ist die entscheidende Frage, wie flexibel wir sind, das heißt: wie rasch wir reagieren können.

STANDARD: Sie würden aber doch auch Nichtwiener im Notfall aufnehmen?

Hacker: Nur im äußersten Notfall. Wir haben gerne die einzige Covid-19-Patientin aus Kärnten zur Lungentransplantation übernommen, aber grundsätzlich ist jeder für die Spitalskapazitäten in seinem Bundesland selbst verantwortlich. Covid-19 ist behandlungstechnisch nicht so schwierig. Die Hygiene und Schutzmaßnahmen haben alle in ihrer Ausbildung zum Arzt oder zur Pflegekraft gelernt.

Rüscher: Unsere Ampelschaltung richtet sich künftig stärker nach der Bettenauslastung. Wir räumen nicht so wie im Frühjahr schon hunderte Betten vorsorglich leer. Wir intubieren auch nicht mehr so schnell. Das war ein Lerneffekt. Wir dachten, dass die Beatmung die Überlebenschancen erhöht, sehen nun aber, dass die Langzeitfolgen schlimm sind.

STANDARD: Was waren sonst noch Lerneffekte?

Hacker: Wir haben Mitte Jänner begonnen, uns mit Corona zu beschäftigen. Die Informationen aus Italien haben klargemacht, dass die ältere Generation besonders betroffen ist. Deshalb haben wir extrem rigide Spielregeln für die Pflegeheime aufgestellt. Es waren die bösesten Papiere, die ich je unterschrieben habe und die mir auch am meisten wehgetan haben. Die Pflegeheime abzuschotten und den Einlass in die Spitäler zu beschränken, das waren harte Verordnungen, aber ich stehe bis heute dazu. Die Bewohnervertreter und Berufenen, die das jetzt diskutieren, hätten gerne im Februar mithelfen können, das Leben der Menschen in den Heimen besser zu gestalten. Ich bin im Augenblick ziemlich sauer über diese Debatte.

Rüscher: Wir haben gelernt, dass es notwendig ist, Pandemiepläne zu haben. Aber im Anlassfall müssen sie angepasst werden. Aus unserer Sicht sind schlagkräftige Strukturen am wichtigsten. Solche, die man täglich einberufen kann und die aufgrund der aktuellen Situation entscheidungsfähig sind. Es sollte uns auch das Schutzmaterial nicht mehr ausgehen, und wir sollten nicht so stark vom chinesischen Markt abhängig sein. Wir haben ein Krisenlager für drei Monate eingerichtet, und jeder Gesundheitsdiensteanbieter muss selbst einen Vorrat anlegen.

STANDARD: Sehen Sie den Bund bei der Beschaffung des Impfstoffs gefordert?

Rüscher: Natürlich, das kann nur eine staatliche Lösung sein. Da kann nicht jedes Bundesland auf Impfstoffsuche gehen.

Hacker: Die Landesgesundheitsräte haben auch den Beschluss gefasst, dass Impfen Aufgabe der Krankenkasse sein soll. Derzeit ist Impfen bis auf einige Ausnahmen ja nach wie vor Privatsache in unserem Land. Darum ist das auch so schlecht organisiert.

STANDARD: Was wird passieren, wenn sich im Herbst Husten und Halsweh verbreiten?

Hacker: Dann werden alle unruhig werden und das Gesundheitstelefon 1450 sowie die Gesundheitsdienste massiv gefordert sein. Die Testzahlen werden dramatisch nach oben gehen. Wenn wir es schaffen, diesen Ansturm abzuarbeiten, dann wird voraussichtlich nicht viel passieren. Klar ist, wir reden von einer ansteckenden Krankheit. Aber für die allermeisten ist sie nicht tödlich, sondern nur unangenehm.

STANDARD: Es gibt aber Menschen, die große Angst haben.

Hacker: Ich finde, dass zu viel Angst verbreitet worden ist. Uns Politikern ist es nicht gelungen, das Thema mehr auf der Vernunftebene zu verankern. Ich fand auch diese martialischen Pressekonferenzen vor den Staatsfahnen nicht notwendig. Das hat eine Dramatik signalisiert, die zu Panik und Angst geführt hat.

STANDARD: War das eine gezielte Angstmache?

Rüscher: Das glaube ich nicht. Im Februar und März waren wir wirklich besorgt. Wir haben Triage-Konzepte geschrieben, wen wir nicht mehr beatmen, wenn uns die Beatmungsgeräte ausgehen. Das war eine der härtesten Grundlagen. Doch dann hat es sich schnell in eine andere Richtung entwickelt. In dem Moment hat man zu wenig stark betont, dass wir die Situation nun lockern, die Geschäfte öffnen und wieder aufatmen können. Es ist allerdings auch jetzt immer noch nicht die Zeit für Sorglosigkeit gekommen.

STANDARD: Werden die Schulen im September normal öffnen?

Hacker: Wir haben für die Wiener Schulen und Kindergärten neue Spielregeln ausgearbeitet. Es hat sich gezeigt, dass Kinder praktisch keine Viren verbreiten. Schulen und Kindergärten haben eine extreme Versorgungsverantwortung und einen direkten Einfluss auf die Wirtschaftsleistung. Zum Glück ist auch die Beschäftigungsquote bei Frauen hoch. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass sich der Kindergarten und die Schule um die Kinder kümmern.

STANDARD: Bergen Seuchen nicht auch immer die Gefahr von Schuldzuschreibungen in sich?

Rüscher: Ja, ich sehe eine große Gefahr, dass Erkrankungen deshalb verheimlicht werden. Wir sind darauf angewiesen, dass wir die Infektionsketten rasch abschneiden. Ich kann mir schon vorstellen, dass einige zum Beispiel nicht freiwillig sagen, wo sie ihren Urlaub verbracht haben. Kinder hatten auch das Gefühl, dass sie schuld sind, wenn sie ihre Großeltern anstecken. Diese Schuldgefühle müssen wir ihnen wieder nehmen. Das heißt aber nicht, dass die Eigenverantwortung abgeschafft ist. Jede Highlife-Party ist derzeit ein Risiko.

STANDARD: Apropos Party: Sollen Nachtclubs und Diskotheken geschlossen bleiben?

Rüscher: In Vorarlberg machen die Sperren schon jetzt wenig Sinn, denn über den Rhein in der Schweiz sind die Nachtclubs offen, und die Vorarlberger sind alle dort. Wir sollten die Clubs auch deshalb wieder öffnen, um ihnen ihre wirtschaftliche Grundlage zurückzugeben. Aber unter speziellen Bedingungen, für die es österreichweite Leitlinien geben sollte. Das Nachtleben wird dann etwas anders werden.

Hacker: Es ist überhaupt wichtig, dass alle Spielregeln abgestimmt, schlüssig und nachvollziehbar sind. Je besser unsere Erklärungen sind, umso mehr werden die Menschen sie nachvollziehen. Die wichtigsten Regeln werden eingehalten. Wenn du am Donaukanal gehst, siehst du, dass bis auf ein paar Idioten alle eine unglaubliche Disziplin an den Tag legen. (Andrea Fried, CURE, 29.8.2020)