Die Zentrale des Wiener Gesundheitsdienstes, Magistratsabteilung 15, Thomas-Klestil-Platz 8a, zweiter Stock: ein schmuckloser Besprechungsraum, die Tische sind zu einem eckigen U zusammengestellt, an der offenen Stirnseite steht ein Flipchart.

Ursula Karnthaler sitzt mit ihrem Laptop an einem der Tische, analysiert die aktuellen Daten zu den Sars-CoV-2-Infektionen. Statt die Hand zu schütteln, winkt sie zur Begrüßung, achtet darauf, dass ein Sicherheitsabstand von 1,5 Metern eingehalten wird. "Haben Sie sich schon die Hände desinfiziert?", fragt sie, bevor ihr die erste Frage gestellt werden kann.

Für die medizinische Leiterin des Wiener Krisenstabs und stellvertretende Direktorin der Landessanitätsdirektion sind Distanzhalten, Händehygiene und Mund-Nasen-Schutz mehr als nur Schlagworte, sondern die einfachsten und effizientesten Mittel, mit denen die Bevölkerung aktiv dazu beitragen kann, die Corona-Epidemie einzudämmen. "Würde sich jeder daran halten, könnten sehr viele Infektionen vermieden werden", ist Karnthaler überzeugt.

In voller Montur zum PCR-Test ausrücken – theoretisch könnte jeder infiziert sein.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Die Nachverfolgung der Infektionsketten, das Contact-Tracing, auch Kontaktpersonenmanagement genannt, ist ein weiteres zentrales Werkzeug der heimischen Corona-Strategie, mit der im Herbst erneute Ausgangsbeschränkungen und das Schließen von Kindergärten, Schulen, Universitäten, Gaststätten und Geschäften verhindert werden sollen. Ein zweiter österreichweiter Shutdown wäre der Bevölkerung nur schwer zu verkaufen, er käme schlichtweg zu teuer.

Virologische Kontaktbörse

Am Beginn des Contact-Tracings steht meistens ein Anruf bei der Gesundheitshotline 1450. Hier melden sich Bürgerinnen und Bürger, die von möglichen Covid-19-Symptomen wie Fieber oder trockenem Husten geplagt werden. In etwa einem Drittel der Fälle erhärtet sich nach einer standardisierten Befragung der Verdacht auf eine Infektion mit Sars-CoV-2.

Das weitere Prozedere: Das Rote Kreuz wird informiert und schickt Mitarbeiter in Ganzkörperschutzanzügen zum betreffenden Haushalt. Rachenabstrich nehmen, die Probe ins Labor bringen, PCR-Test auswerten. Ist der Test positiv, erhält die infizierte Person einen Anruf von einem Contact-Tracer. In Wien machen das geschulte Mitarbeiter des Stadtservice, bei personellen Engpässen helfen auch Amts- und Schulärzte mit, bis zu 250 Contact-Tracer stehen im Notfall zur Verfügung.

Viele Fragen

Auch hier folgt die Befragung einem standardisierten Schema: Wann sind die Symptome aufgetreten? Wann waren Sie zuletzt am Arbeitsplatz? Gab es ein Meeting? Wer hat daran teilgenommen? Wie viele Menschen wohnen bei Ihnen? Haben Sie in den 48 Stunden vor dem Auftreten der Symptome Familienfeiern oder öffentliche Veranstaltungen besucht?

Es werden Namen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen der Kontaktpersonen der vergangenen zwei Tage notiert und in eine Datenbank eingegeben. Zusätzlich wird den positiv getesteten Bürgern mitgeteilt, dass sie die nächsten zehn Tage zu Hause verbringen müssen.

Den schriftlichen "Absonderungsbescheid", wie es im Epidemiegesetz aus dem Jahr 1950 formuliert ist, verschicken die Gesundheitsbehörden. Wer einen sogenannten Hochrisikokontakt (siehe Infokasten unten) zum Infizierten hatte, bekommt ebenfalls ein Wattestäbchen in den Rachen gesteckt und muss in Quarantäne.

Schulschließungen unwahrscheinlich

Bei der Österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) laufen die Daten zu den nachgewiesenen Infektionsfällen und ihren Kontaktpersonen aus allen Bundesländern zusammen. Aus diesen Informationen werden sogenannte Clusteranalysen erstellt. Damit soll in Zukunft ein "schlaues, schnelles und regionales Krisenmanagement" möglich sein, wie es sich Gesundheitsminister Rudolf Anschober wünscht.

Die Virusinfektionsketten immer im Blick.
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Aktuell sind laut Ages die mit Abstand häufigsten Clustersettings Haushalt, Arbeitsplatz und Freizeitaktivitäten, auf die knapp 90 Prozent der nachvollziehbaren Erkrankungsfälle zurückzuführen sind.

Die Daten zeigen außerdem, dass nur rund ein Prozent der Clusterfälle aus Schulen und Kindergärten stammt. "Kinder sind kaum Überträger des Virus. Für die Schulen werden wir deshalb unser Vorgehen bis in den Herbst sicher noch adaptieren", sagt Karnthaler. Klingt so, als würden bundesweite Schließungen ab September nurmehr letztes Mittel der Wahl sein.

Faktor Zeit

Die Zahlen der Ages weisen allerdings Unschärfen auf: Ende Juli waren 9297 von insgesamt 20.133 Covid-19-Erkrankungen auf einen von 1004 ermittelten Clustern zurückzuführen. Damit konnte über das Contact-Tracing rund die Hälfte der Fälle eindeutig einer Infektionskette zugeordnet und das Virus unter Kontrolle gebracht werden.

Jede Infektion nachzuverfolgen ist aus einem einfachen Grund unmöglich, der größte Gegenspieler der Contact-Tracer ist: Zeit. Infizierte sind 48 Stunden vor und nach dem Auftreten der ersten Symptome am ansteckendsten. "Entscheidend ist also, in welcher Krankheitsphase ich einsteige. Je später eine Person getestet wird, desto schwieriger ist es, die Kontaktgeschichte lückenlos nachzuverfolgen", erklärt Ursula Karnthaler.

Da der Krankheitsverlauf von Covid-19 sehr unterschiedlich sein kann, spürt ein Teil der Infizierten entweder keine oder nur sehr milde Symptome, die Testungen finden in diesen Fällen entweder gar nicht oder eben relativ spät statt.

Späte Testergebnisse

Ein weiteres Problem: Viele Testergebnisse kommen nicht – wie versprochen – innerhalb von 24 Stunden bei den Betroffenen an. Exemplarisch dafür steht der Fall eines Geschäftsführers eines österreichischen Pumpenherstellers. Er möchte anonym bleiben. An einem Samstag im Juli fühlte er sich müde, begann zu husten, die Körpertemperatur war leicht erhöht. Seine siebenjährige Tochter zeigte ein paar Tage zuvor die gleichen Symptome.

Nach einem Anruf bei der Gesundheitshotline 1450 wurde am Sonntag ein Team des Roten Kreuzes vorbeigeschickt, das einen Rachenabstrich von ihm und dem Mädchen nahm. Montagnachmittag hätte er den Anruf über die Ergebnisse der Tests erhalten sollen, erst am Donnerstag klingelte das Telefon. Das Ergebnis war negativ.

Isolierung von Kranken und Verdachtsfällen ist eine bewährte Strategie in der Pandemie. Deshalb müssen Teams zu den Menschen nach Hause kommen.
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"In 90 Prozent der Fälle funktioniert der Ablauf der Testungen reibungslos", sagt Karnthaler. Bei etwa jedem zehnten Fall komme es aber zu Verzögerungen, weil in einem der zahlreichen Schnittstellen etwas schiefgelaufen sei. "So ist es etwa auch schon vorgekommen, dass die Weiterleitung von 1450 an das Rote Kreuz nicht funktioniert", erzählt die medizinische Leiterin des Wiener Krisenstabs.

Nach heutigem Wissensstand verbreitet sich das neuartige Coronavirus bevorzugt in geschlossenen Räumen über sprechende, singende oder Geburtstagskerzen ausblasende Münder. Deshalb wünscht sich Ursula Karnthaler von der in Österreich lebenden Bevölkerung, "dass sie die Nähe in ihrem persönlichen Umfeld sucht – also bei ihrer Familie und ihren engsten Freunden. Überall sonst sollten die Menschen den Babyelefanten mitdenken." Das würde Neuinfektionen zwar nicht unbedingt vermeiden, aber zumindest das Contact-Tracing und damit die Kontrolle über das Virus erheblich erleichtern. (Günther Brandstetter, CURE, 7.9.2020)