Wenn mein Fahrrad Gefühle hätte, wäre es mit unserer bisherigen Beziehung nicht glücklich. In den letzten Jahren stand es die meiste Zeit in der Garage, wo ich hin und wieder einen kurzen – aber liebevollen! – Blick darauf warf, um sicherzugehen, dass es noch da ist.

Radeln in Wien bedeutete für mich Stress: hupende Autos, herandonnernde Straßenbahnen und zugehörige Schienen, in die das Rad gelangen könnte. Da blieb ich lieber bei den Öffis. Doch wegen der Corona-Pandemie sind viele, die sich dem Infektionsrisiko im öffentlichen Nahverkehr nicht aussetzen wollen, auf das Fahrrad umgestiegen, auch ich. Abstandhalten fällt auf dem Drahtesel leichter als in der U6 zur Rushhour. Und so florieren die Fahrradhersteller seit Beginn der Krise, und Fahrradgeschäfte freuen sich über steigenden Absatz. Der Verkehrsclub VCÖ meldet für den Mai um 45 Prozent mehr Radverkehr in Wien als im Vorjahr.

Mit dem Rad in der Stadt zu fahren macht einen unabhängig vom Fahrplan der Öffis, trainiert den Körper und ist nicht so gefährlich, wie man fürchtet.
Foto: Hendrich

Für mich stellt sich nur ein Problem: Ich fühlte mich im Straßenverkehr nicht sicher auf dem Rad. Mit den FahrSicherRad-Kursen der Radlobby gibt es in Wien ein Angebot für Erwachsene, die zwar prinzipiell Rad fahren können – denen aber auf der Straße die Manschetten gehen. Seit Corona werden diese Kurse verstärkt nachgefragt. Zusammen mit meiner Schwester, ebenfalls eine Fahrradneurotikerin, habe ich eine Doppelstunde gebucht.

Platz da!

Und so schieben wir unsere Räder zum Workshop-Treffpunkt auf dem Schedifkaplatz in Wien-Meidling, die Helme festgezurrt und im Kopf beunruhigende Bilder hollywoodreifer Radunfälle. Radtrainer Philipp Schober auszumachen ist nicht allzu schwierig: Zwischen den auf die Badner Bahn wartenden Pendlern, Mitarbeiterinnen von Spendenorganisationen und frühmorgendlichen Biertrinkern sticht Schober mit lässigem Rennrad und coolem Käppi hervor. Schober (30) ist Raumplaner und zertifizierter Radfahrtrainer.

Unsere Konfrontationstherapie beginnt zunächst harmlos. Wir überprüfen, ob unsere Räder StVO-konform ausgestattet sind, und besprechen die Strecke: von Meidling aus über den Siebenbrunnenplatz bis nach Wien-Mitte, wo sich das Redaktionsgebäude des STANDARD befindet.

Radfahrkurse sind eine gute Möglichkeit, die eigene Angst vor dem übrigen Verkehr und möglichen Gefahren abzubauen.
Foto: Hendrich

Schober gibt uns den vielleicht wichtigsten Tipp fürs Radeln in der Stadt: "Traut euch, Platz einzunehmen." Das bedeutet: Nicht schüchtern rechts am Straßenrand, wo Gefahren lauern, sondern in der Mitte der Fahrbahn fahren. Autos, die hinter uns hertuckern, weil sie nicht überholen können, sollten kein Grund zur Nervosität sein: "In den meisten Autos sitzt auch nur eine Person." Radler seien als Straßenverkehrsteilnehmer gleichberechtigt – dieses Recht müssen sie aber auch einfordern.

Ausbau des Radnetzes

Wir treten in die Pedale, zumindest kurz. Denn zunächst müssen auf wenigen Hundert Metern sechs Ampeln überquert werden – und natürlich schaltet justament jetzt jede auf Rot. Dann die Wilhelmstraße hinunter: erst Schober, tief über den Lenker seines Rennrades gebeugt, dahinter meine Schwester und ich auf unseren City-Bikes. Ist doch gar nicht so schlimm!

Ganz so einfach bleibt es dann aber auch nicht. Immer wieder winkt uns FahrSicherRad-Trainer Philipp Schober zur Seite, um uns vom Straßenrand aus auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Davon gibt es viele in dem mehr als 1400 Kilometer langen Wiener Radnetz, das auch aus Bus-Streifen, die mitunter mitbenutzt werden dürfen, oder Radstreifen gegen die Einbahn besteht. Seit einigen Monaten gibt es in Wien auch sogenannte Pop-up-Radwege, um die bestehende Infrastruktur angesichts des vermehrten Verkehrsaufkommens zu entlasten.

Alles gut also in der Radfahrstadt Wien? Jein. Das belegt auch eine kürzlich eine Diskussion zu absurden Fahrradsituationen im Forum auf derStandard.at. Dabei sorgten unerfreuliche Aufeinandertreffen mit Autofahrern, Fußgängern und Radfahrern, aber auch vermeintliche Schikanen durch die Polizei für hitzige Debatten.

Wien ist ein Fleckerlteppich aus guter Infrastruktur und weniger fahrradfreundlichen Gebieten.
Foto: Hendrich

Gefährlich kann es auf Straßen werden, in denen Radverkehr gegen die Einbahn erlaubt ist und Autofahrer nicht mit Entgegenkommenden rechnen. Auch auf beiden Seiten zugeparkte Durchzugsstraßen mit Straßenbahnschienen – etwa die Josefstädter Straße oder die Lerchenfelder Straße – sind nichts für Zartbesaitete. Noch ein Problem: Zwischen parkenden Autos kann jederzeit jemand auf die Straße treten. Ganz schön stressig für Radanfängerinnen: "Mit der Zeit entwickelt man aber einen anderen Blick auf die Stadt", macht uns Schober Mut. Das Ausschauhalten nach und das Einschätzen von Gefahren würden schnell zur Routine.

Schönste Strecken

Bernhard Dorfmann kennt diese Situationen ebenso. Früher war er Fahrradkurier. Heute betreibt er die City Cycling School in Wien. Auch er bietet Fahrradkurse an, wenn er nicht, wie kürzlich, an einem Bandscheibenvorfall laboriert. Den Stadtverkehr erleben alle Verkehrsteilnehmer unterschiedlich, erklärt er. Das führt auch zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen von Situationen: "Die Vehemenz des Verkehrs bekommen eigentlich nur Radfahrer und Fußgänger mit", sagt Dorfmann. Wer im Auto sitzt, ist von den Geräuschen des Verkehrs weitgehend abgeschirmt. Eine 120 Dezibel laute Hupe hört sich für einen Radler anders an als für einen Autofahrer.

Es gibt aber auch Radwege in Wien, bei denen Radlerinnen und Radler ins Schwärmen kommen. Beim Heumarkt im dritten Bezirk funktioniere es schon recht gut, urteilt Bernhard Dorfmann, oder von der Ecke Mariahilfer Straße den Getreidemarkt hinunter. Man könnte also sagen: Wien ist ein Fleckerlteppich aus guter Infrastruktur und weniger fahrradfreundlichen Gebieten. Auf der sicheren Seite ist man, wenn man sich Routen vorab anschaut – etwa mittels der Handy-App "Bike Citizens".

Zu guter Planung rät auch unser Radtrainer Philipp Schober. Unsere kleine Radfahrtruppe hat mittlerweile den stark frequentierten Fahrradweg in der Operngasse bezwungen und fährt nun in Richtung Ring. Mittlerweile wechseln wir uns ganz locker in der Führung der Gruppe ab. Radfahrdramen wie in den zuvor ausgemalten Worst-Case-Szenarien haben wir bisher keine erlebt. Ja, wir sind an einer Stopp-Tafel kurz Auge in Auge mit einem 13A-Bus gestanden, der zwar Vorrang hatte, an uns vorbei aber nicht abbiegen konnte.

Im Straßenverkehr nicht so wichtig: immer trendy unterwegs sein.
Foto: Hendrich

Aber sogar diese Situationen können im Stadtverkehr gemeistert werden – im schlimmsten Fall mithilfe eines "Plan B": Wenn gar nichts mehr geht, dann geht gehen. Absteigen und das Fahrrad schieben ist immer eine Option. Das machen sogar Stadtfahrradprofis manchmal.

Noch ein Argument fürs Radeln: Wer seine Alltagswege so bewältigt, trainiert das Herz-Kreislauf-System und die Oberschenkelmuskulatur. Als Ausdauerleistung ist Radeln schon ab einer Dauer von zehn bis 15 Minuten sinnvoll, erklärt der Linzer Sportmediziner Rainer Hochgatterer. Damit man dauerhaft dabei bleibt, rät er zum "richtigen Set-up". Soll heißen: Das Gewand zum Radfahren und eventuell die Regenausrüstung liegen in der Früh schon bereit. Im Sommer lohnt es, sich Wechselgewand ins Büro zu legen. Die Kollegen werden es einem danken.

Neue Form der Freiheit

Unser Schweiß ist rasch getrocknet, als wir vor dem Redaktionsgebäude des STANDARD stolz vorfahren und uns von Radfahrlehrer Schober verabschieden. Nun fühlen wir uns sicher genug, um den Rückweg ins Homeoffice auch ohne seine Unterstützung anzutreten.

Beim Redaktionsgebäude angekommen, ist der Kurs auch schon wieder vorbei.
Foto: Hendrich

Knapp einen Monat ist der Fahrradkurs nun her. Seither bin ich fast jeden Tag aufs Rad gestiegen. Wurde von linksabbiegenden Autos auf dem Radweg geschnitten und von einem auf der Kreuzung plötzlich zurücksetzenden Lieferwagen in Bedrängnis gebracht. Ich weiß nun, dass Busse beim Abbiegen viel Platz brauchen und ein kurzes Kleid an windigen Tagen nur etwas für Schambefreite ist.

Vor allem aber schätze ich die neue Freiheit, nicht mehr von Fahrplänen abhängig zu sein – auch wenn ich immer noch oft stehen bleiben und mit meiner Handy-App den besten Fahrweg checken muss.

Mein Rad ist nun nicht mehr in der Garage geparkt. Wenn es Gefühle hätte, wäre es jetzt wahrscheinlich ziemlich erschöpft, aber hoffentlich glücklicher. Unser aktueller Beziehungsstatus: Es ist immer noch ein wenig kompliziert. Aber wunderschön. (Franziska Zoidl, 20.8.2020)