Der ehemalige Neos-Chef Matthias Strolz kritisiert in seinem Gastbeitrag, dass es keine gemeinsame Linie der EU-Staaten in der Bekämpfung der Corona-Pandemie gibt. Die Mehrheit der Regierungschefs setze die "Priorität auf Selbstdarstellung".

Die EU-Regierungschefs und ihre Gesundheitsminister hätten nun fast ein halbes Jahr Zeit gehabt, eine gemeinsame Covid-19-Strategie und -Ampel zu verhandeln. Sie haben nicht einen Finger dafür gerührt. Sie fokussieren auf billiges politisches Kleingeld. Das ist tödliche Ignoranz, beschert uns mittelfristig noch größere wirtschaftliche Schwierigkeiten, eine erhöhte Arbeitslosigkeit und ein verheerendes Chaos des kalten Revanchismus.

Für welche Länder es Reisewarnungen gibt, wo eine Gesichtsmaske zu tragen ist: Jedes Land bastelt an seinen eigenen Corona-Maßnahmen. Eine gemeinsame Strategie fehlt.
Foto: Foto: APA/dpa/Niefeld

Dass für eine Bürgerin aus Ried im Innkreis andere Länder und Regionen "zu" sind und andere Quarantäne-Regeln gelten wie für einen Bürger aus Passau, ist einfach dumpf. Nicht nachvollziehbar. Es ist eine Zumutung für uns Bürgerinnen und Bürger. Dass jede nationale Regierung Länder und Regionen auf und zu macht, wie es gerade in ihre politischen Dynamiken (und Wahlkämpfe) passt, ist grotesk. Dies unterminiert auch die Glaubwürdigkeit der Politik, und daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich immer mehr Menschen nicht mehr an politische Corona-Vorgaben halten, weil sie diese als teils erratisch und rein machttaktisch empfinden (beziehungsweise durchschauen).

"Mit dem Auto"

Natürlich kommt das Virus unter anderem "mit dem Auto" – aus Kroatien, aus Ischgl, vom Wolfgangsee –, aber zu glauben, dass chauvinistische Taktiken uns hier weiterhelfen, ist kurzsichtig. Die Interventionen müssen entschlossen und nachvollziehbar und gemeinsam abgestimmt sein. Dafür braucht es gemeinsame Entscheidungsgrundlagen – unter anderem eine EU-weite Corona-Ampel: einheitliche Definitionen, straffes Meldewesen und entschlossene Umsetzung der akkordierten Maßnahmen auf regionaler Ebene. Eine solche gemeinsame Vorgangsweise zu entwickeln und zu verabschieden ist keine Raketenwissenschaft. Es braucht dafür nur eines: den politischen Willen. Und dieser fehlt vollkommen.

Ist dies ein Versagen der EU? Nein, weil die EU auf Basis bestehender Verträge im Gesundheitsbereich keine Zuständigkeit hat. Und die Kommission wird in ihrer Macht von den Regierungschefs bewusst kleingehalten.

Wenn ich dann den ORF-Journalisten Hans Bürger in der Zeit im Bild kommentieren höre, dass deswegen "die EU so unsympathisch" wahrgenommen werde, dann tut das meinem politischen Herzen weh. Weil es eben nicht die Europäische Union ist, die hier auslässt. Es sind die Regierungschefs, die auslassen! Sie hätten die Macht, eine gemeinsame Initiative zu starten. Und sie hätten die Pflicht. Denn die Politik ist der Ort, wo wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben.

Umfragewerte sind wichtiger

Angesichts von Tausenden von Toten und angesichts eines historischen Wirtschaftsdesasters wären die Regierungschefs in der moralischen Pflicht, sich gemeinsam zu organisieren. Doch die Mehrheit von ihnen setzt ihre Priorität auf Selbstdarstellung. Ihre Umfragewerte sind ihnen wichtiger als sinnvolle Lösungen und nachhaltige Dienstleistungen für "ihre" Bürgerinnen und Bürger. Für diese nationalistische Pseudo-Leadership werden wir einen hohen Preis bezahlen. Es führt uns in die Zerrüttung des Miteinanders auf unserem Kontinent. Denn harte politische Interventionen, die als willkürlich erfahren werden, provozieren Revanche-Aktionen. Wir betreten einen Kreislauf des kalten Revanchismus, bei dem es keine Gewinner geben wird.

Wir sollten als Bürgerinnen und Bürger von unseren Regierungsspitzen europäische Gemeinsamkeit und regionale Entschlossenheit mit aller demokratischen Kraft einfordern. Und selbst wenn es naiv und unrealistisch erscheint, alle 27 EU-Länder für eine gemeinsame Strategie mit an Bord zu bekommen, sollten wir heute damit beginnen, eine "Koalition der Engagierten" zu schmieden, die vorangeht.

Gutes Übungsfeld

Es wäre dies auch ein gutes Übungsfeld für die Weiterentwicklung der europäischen Zusammenarbeit insgesamt. Denn als EU-Mitglieder haben wir nach der Corona-Krise die Frage zu beantworten, in welchen Politikfeldern und Lebensbereichen wir "gemeinsame Sache" machen wollen. Wenn wir zu keinen neuen Gemeinsamkeiten kommen, dann wird die Union in der derzeitigen Form kaum aufrechtzuerhalten sein. Und ohne Union kommen ganz andere Dinge auf uns zu, die mittel- bis langfristig die Sicherheit und das Wohlbefinden in unserem Alltagsleben massiv beeinträchtigen werden. Wir leben auf einem Planeten voller Fleischfresser – der Appetit auf europäische Filetstücke ist weltweit groß.

Postskriptum: Ich bekomme nach solchen Stellungnahmen regelmäßig Rückmeldungen, dass ich mich zurückhalten möge, ich hätte doch meine Chance gehabt. Ich möge schweigen, nachdem ich die Politik aus eigener Entscheidung verlassen habe. Mitnichten! Ich habe die Politik nicht verlassen. Ich habe meine Rolle verändert. Ich bin kein Parteichef mehr, aber ich bleibe freier Bürger eines freien Landes. Und die wichtigste Rolle in einer Demokratie – die Belarussen erinnern uns gerade daran – ist die der Bürgerin, des Bürgers (Matthias Strolz, 20.8.2020)