Von wachsender Integration bis in die Katastrophe und den neuen Alltag danach: Ab Sonntag ist die neue Schau geöffnet.

Foto: Jüdisches Museum Berlin

Das Jüdische Museum in Berlin.

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Als das Jüdische Museum Berlin vor bald zwanzig Jahren seine Dauerausstellung für das Publikum öffnen wollte, kam die Weltgeschichte dazwischen: Der spektakuläre Terroranschlag vom 11. September 2001 machte eine Verschiebung um zwei Tage erforderlich. Der Erfolgsgeschichte tat das keinen Abbruch, das Museum mit dem Zubau von Daniel Libeskind zählt für Berlin-Besucher zu den Pflichtprogrammen. Seit Ende 2017 allerdings war die Dauerausstellung wegen Überarbeitung geschlossen, eine Unterbrechung, die wegen der Corona-Pandemie noch verlängert werden musste – diese Woche ist es nun aber so weit. Die ursprünglich für Mai geplante Eröffnung der Schau Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland findet nun in mehreren Stufen statt, ab Sonntag ist sie dann für das Publikum geöffnet.

Das gesellschaftliche Klima hat sich in den 20 Jahren deutlich verändert: 2001 war das neue Jüdische Museum in Berlin der Stolz einer zusammenwachsenden Stadt, die symbolisch die Früchte der Wiedervereinigung zu ernten begann. 2020 ist Berlin die Hauptstadt einer Republik, in der meinungsstarke Minderheiten den demokratischen Konsens aufkündigen und ein Problem mit Antisemitismus haben: mit einem offen rassistischen, wie ihn der Attentäter von Halle verkörpert, dem gerade der Prozess gemacht wird; aber auch mit einem komplexeren, wie er bei einem Intellektuellen wie Achille Mbembe auftaucht, dessen Israel-Kritik die Debatte dieses Jahr intensiv befeuert hat.

Kontroversen um das Museum

Auch das Jüdische Museum Berlin (JMB) selbst war von diesen Auseinandersetzungen betroffen. Vor einem Jahr trat der damalige Direktor Peter Schäfer, ein Judaist von Weltgeltung, zurück, nachdem zuerst von dem offiziellen Twitter-Account des JMB der Beschluss des Deutschen Bundestags, dass die Israel-kritische Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) als "antisemitisch" zu werten sei, als "nicht hilfreich" kritisiert wurde. In der Folge geriet auch die Themenausstellung Welcome to Jerusalem als zu stark auf Belange der Palästinenser bedacht in die Kritik, und aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland kam die Frage, ob das JMB überhaupt noch als "jüdisch" zu bezeichnen sei.

Die am 1. April dieses Jahres bestellte neue Direktorin, Hetty Berg, davor Chefkuratorin des Jüdischen Kulturzentrums in Amsterdam, muss nun mit den vielen Ansprüchen umgehen, die an das JMB gerichtet sind: Es soll einerseits Aushängeschild eines neuen jüdischen Lebens in Deutschland sein, andererseits aber auch so etwas wie eine Bildungsstätte für ein breites Publikum, das vom Judentum oft wenig weiß. Dazu soll der Status eines Touristenmagneten gewahrt bleiben.

Eine kleine Begebenheit während der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung ließ erkennen, in welche Richtung Berg diese Spannungen aufgreifen möchte. Jemand fragte, warum Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, nicht in der "Hall of Fame" auftaucht, einer Sammlung jüdischer Menschen in cartoonesker Präsentation, der man in einem Treppenhaus begegnet. Leonard Nimoy, der Spock aus Raumschiff Enterprise, hängt da neben Else Lasker-Schüler oder Freud. Herzl aber kommt hier deswegen nicht vor, hob Berg hervor, weil er an anderer Stelle auf dem Weg durch die Ausstellung prominent vorkommt – mit Dokumenten, die sich ausführlich den Vorstellungen von einem Leben in einem gemeinsamen jüdischen Staat widmen. Und Herzl kommt auch noch mit einer starken Aneignung vor: drei Fotografien, in denen die kontroverse Künstlerin Yael Bartana sich selbst als Herzl inszeniert. Das ist ein vieldeutiges, auch queeres Statement zu einer der Zentralfiguren des modernen Judentums und für die Ausstellung auch ein Indiz, dass nicht alles auf Konsens und Aufklärung hinauslaufen muss.

Mittelalter mit koscherer Wurst

Die thematische Vorgabe der Dauerausstellung, das Judentum in Deutschland eben, bringt es mit sich, dass zu Beginn eine empfindliche Lücke klafft: Die vorexilischen ("altorientalischen") Judentümer bis zum Römischen Reich müssen einfach vorausgesetzt werden, die "Erzählung" der Ausstellung beginnt im Mittelalter, sodass zum Beispiel den Speisevorschriften (dokumentiert etwa durch eine Plastikwurst, von der man erfährt, ob sie koscher ist oder nicht) ein wenig der Kontext fehlt. So ist es letztendlich auch mit der Tora insgesamt, die als Schriftrolle, also als Objekt, prominent firmiert, die in ihrer Vielschichtigkeit als (Sozial-)Gesetz aber nicht eingeholt werden kann.

Dramaturgisch ist der Ausstellung durch die historischen Ereignisse fast so etwas wie eine "plot construction" vorgeschrieben: Die zunehmende Integration und Assimilierung in der Moderne endet 1933 in der Katastrophe, hinter der sich ab 1945 ein zerbrechlicher, neuer Alltag zu entwickeln beginnt. Als gelungen kann man in der neuen Fassung die Ausstellungsarchitektur betrachten: Gerade das Kapitel Katastrophe verzichtet auf ohnmächtige Versuche, das Menschheitsverbrechen adäquat nachzuinszenieren, und löst den nationalsozialistischen Judenhass vielmehr in eine Vielzahl von bürokratischen Detailregeln auf, die auf weißen, von der Decke hängenden Transparenten eine sukzessive Verschärfung der Niedertracht erkennen lassen.

Insgesamt ist allerdings auch deutlich zu erkennen, dass sich das JMB an ein Publikum wendet, das bei einer Ausstellung mit heutigen Vorstellungen von Interaktivität abgeholt werden möchte. 2001 durfte man ausprobieren, wie gut man als "Hofjude" funktioniert hätte, dieses Mal gibt es gar einen Messias-Test. An anderer Stelle sieht man dann aber, dass in jüdischen Familien die Aliya (die Rückkehr, das "Hinaufziehen" nach Jerusalem) zuerst als Brettspiel geübt und propagandistisch vertreten wurde. Einen starken Akzent gibt es gegen Ende des Parcours, wo mit einer Wandinstallation die Beziehung des Judentums zum Heiligen hervorgehoben wird – also ein religiöser Anspruch an die Menschheit insgesamt dokumentiert wird. Das ist strittig und in diesem Moment auch so etwas wie eine kleine Erlösung aus dem Dickicht einer allzu abgesicherten Museumspädagogik. (Bert Rebhandl, 20.8.2020)