Kinder beim Deutschunterricht: "Die meisten werden nie ausreichend gut sprechen und schreiben können, um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen."

Foto: Hans Klaus Techt

Nach dem Fleck flossen die Tränen. Doch nicht nur die Schülerin war am Boden zerstört, als sie die Deutschschularbeit mit einem Fünfer entgegennahm. Ihre Lehrerin konnte die feuchten Augen gerade so lange kaschieren, bis sie nach der Stunde zum Weinen aufs Klo verschwinden konnte. Sie habe zwar gelernt, wie man all die Annas und Pauls unterrichtet, dämmerte es der Pädagogin, doch bei einem Mädchen wie Hülya musste sie sich eingestehen: "Ich habe als Lehrerin versagt."

Die Ohnmacht, die sie in einem Jahr Unterricht an einer Wiener AHS empfand, hat Melisa Erkurt zu einem Buch animiert. Den Titel – Generation Haram – entlieh sie einer vielbeachteten Reportage, die sie als Redakteurin des Magazins Biber über Burschen, die sich als islamische Tugendwächter aufspielen, geschrieben hat. Ein starker Teaser – aber auch ein Stück weit Etikettenschwindel. Denn Erkurt legt ihre Bestandsaufnahme weitaus vielschichtiger an. Dass ihr einstiger Text mitunter als Beleg aufgefasst wurde, wonach die muslimischen Schüler das eigentliche Problem seien, will sie so nicht stehen lassen.

Halbwüchsige Provokateure

Die halbwüchsigen Provokateure, die mit dem Fingerzeichen des "Islamischen Staats" posieren und Mädchen im Bikini als Schlampen beschimpfen, kommen schon auch vor. Doch Erkurt bettet das Phänomen in ein Bild alltäglicher Diskriminierung, die das Selbstwertgefühl von Zuwandererkids breche – und manche erst recht zur Rebellion anstachle: Wer sowieso als Verlierer abgestempelt ist, wolle wenigstens Macht über die Ängste der anderen. Vielen werde – ob von Eltern oder Lehrern – von klein auf nicht mehr zugetraut als die Hauptschule, dafür gebe es ein Abo auf schlechte Betragensnoten: "Wenn der kleine Ali zurückredet und laut wird, ist er ein aggressiver Jung-Macho, wenn der kleine Markus das macht, geht er gerade durch eine schwierige Phase."


Will den Abgehängten an den Schulen eine Stimme geben: Buchautorin Melisa Erkurt.
Foto: Heribert Corn

Die 29-Jährige spricht dabei auch aus eigener Erfahrung. Als "muslimisches Flüchtlingsmädchen mit Arbeitereltern", das 1992 aus dem kriegsgebeutelten Sarajevo nach Österreich kam, habe sie auf ihrem Bildungsweg zur studierten Germanistin gerade so viel Diskriminierung erfahren, "dass sie mir nicht vollständig die Kraft zum Weitermachen geraubt hat". Lebhaft erinnert sie sich an die Tage nach 9/11, als Mitschüler die Neunjährige als stille Komplizin der Attentäter abstempelten. Die Lehrerin habe sich nicht bemüßigt gefühlt, dies aufzuklären.

Vorgezeichnetes Schicksal

Dass sie es trotzdem geschafft hat, sei dem Zufall zu verdanken, dass ihre Volksschullehrerin sie nicht in die Migrantenschublade steckte, sondern gut genug fürs Gymnasium hielt. Die große Masse der Kinder mit schlechten Startvoraussetzungen – so die Kernthese des im Zsolnay-Verlag erschienen Buches – sei im Schulbetrieb aber von Anfang an chancenlos. Nach ihrem Unterrichtsjahr hat Erkurt, die für den ORF-Report nun wieder als Journalistin arbeitet, ihre Klasse im Wissen verlassen, dass die meisten nie ausreichend gut Deutsch sprechen und schreiben können werden, "um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen".

Von Tafelklasslern, die nicht einmal die Farben kennen und zum ersten Mal ein Buch in den Händen halten, berichtet Erkurt und von in Österreich geborenen Gymnasiastinnen, die sich auf Deutsch so ausdrücken, als wären sie gerade erst ins Land gekommen. Erfolg hänge im heimischen Halbtagsschulsystem vom Elternhaus ab, schreibt sie und zitiert Volksschullehrerinnen, die nach der ersten Schulwoche vorhersagen könnten, wer es ins Gymnasium schafft: jene Kinder, mit denen die Mutter oder der Vater übt.

DER STANDARD

Wut auf Eltern bringt nichts

Oft scheitere dies am Können, an fehlender Bildung, mangelndem Deutsch und Geld für Nachhilfe, mitunter auch am Wollen. Ja, die Gleichgültigkeit mancher Eltern mache sie wütend, erzählt Erkurt, doch es bringe nichts, ewig darauf zu hoffen, alle ins Boot zu holen. Stattdessen müsse sich die Schule an die schwierigen Voraussetzungen der Kinder anpassen.

Die Autorin fordert etwa eine verpflichtende Gratisganztagsschule, gezielte Anwerbung von Lehrern mit Migrationshintergrund, Schulungen in Bezug auf das Phänomen Diskriminierung und einen völlig neu aufgezogenen Deutschunterricht, der auch Lektüre aus den verschiedenen Herkunftsländern umfasst. "Wir können an den Startbedingungen dieser Kinder nichts ändern", schreibt Erkurt: "Aber wir dürfen sie nicht dafür bestrafen." (Gerald John, 20.8.2020)