Wer einen Eindruck vom Wandel haben möchte, den der Wiener Arbeitsmarkt seit Jahren durchläuft, muss im Süden der Stadt vom Bahnhof Liesing nach Meidling fahren. Eine Baustelle reiht sich da an die nächste. In Atzgersdorf, wo sich früher eines der großen Industriegebiete der Stadt befand, weichen Fabrikshallen nun Wohnkomplexen. Dort, wo früher die Liesinger Sargfabrik war, wird gerade ein Bildungscampus mit Volksschule, Kindergarten, Mittelschule und Sportplätzen errichtet. Etwas weiter stadteinwärts thront das neue Werk des deutschen Pharmariesen Boehringer Ingelheim. Das Unternehmen hat für gut 700 Millionen Euro eine pharmazeutische Produktionsanlage in Meidling errichten lassen, der gewaltige Gebäudekomplex ist weitgehend fertiggestellt.

Die alte Industrie verschwindet, während neue Industriezweige im Pharma- und Life-Science-Sektor entstehen. Eine dynamisch wachsende Stadt, die nicht nur Wohnraum, sondern auch laufend neue Arbeitskräfte braucht, ob nun für die Arbeit im Labor oder auf der Baustelle. Wandel, Wachstum, Zuzug: All diese Entwicklungen haben den Wiener Arbeitsmarkt über die vergangenen Jahre transformiert – ehe dann jüngst mit dem Corona-Schock noch einmal eine dramatischere Wende eingetreten ist und die Arbeitslosenzahlen hochschnellten.

Die Industrie stirbt

Auf den ersten Blick war der Wiener Arbeitsmarkt freilich schon vor Corona in einem desolaten Zustand. Das Bundesland hat die bei weitem höchste Arbeitslosigkeit in Österreich. Im Jänner 2020 lag die Wiener Arbeitslosenquote bei 12,5 Prozent, österreichweit betrug sie nur 8,6 Prozent. Während in der politischen Arena dieser Umstand oft herhalten muss, um als Beleg für die angeblich "faulen" Wiener zu dienen, die lieber lange schlafen, als zu arbeiten oder sich um einen Job zu bemühen, steckt hinter den Zahlen eine andere, kompliziertere Geschichte.

Wien hat einen schnelleren Strukturwandel durchgemacht als andere Metropolen in Europa, sagt der Regionalökonom Peter Mayerhofer vom Forschungsinstitut Wifo. Von den 70er- bis in die 90er-Jahre nahm die Zahl der Industriejobs dramatisch ab und hat sich mehr als halbiert. Das war vor allem großen Produktivitätssteigerungen geschuldet. Maschinen ersetzten Menschen. Bis spät in die 1980er-Jahre hat die Bevölkerungszahl der Stadt parallel dazu abgenommen. Die Stadt hatte an Attraktivität eingebüßt. Doch diese Entwicklung flachte sich ab, wie Mayerhofer sagt. Industriejobs verschwanden und verschwinden zwar weiter, aber das Tempo habe sich verlangsamt.

Der Neustart gelingt

Die Nähe zu Osteuropa, die Öffnung der benachbarten Volkswirtschaften Ungarns, der Slowakei und Tschechiens für ausländische Investitionen machten Wien plötzlich zu einem begehrten Standort. Das begann Unternehmen aus der Finanz-, der IT-, der Pharma- und der Werbebranche anzuziehen. Wien eignete sich perfekt als Stadt, um von hier aus das Osteuropageschäft zu leiten. Parallel dazu setzte eine immer stärkere Zuwanderung ein.

In Zahlen gegossen war die Entwicklung beachtlich: Während noch knapp nach der Jahrtausendwende die Beschäftigung in der Stadt rückläufig war, stieg sie dann deutlich an. Die Stadt begann stark zu wachsen, und auch die Zahl der Arbeitsplätze stieg. So waren 2004 etwas mehr als 728.000 Menschen unselbstständig beschäftigt in der Stadt, im vergangenen Jahr waren es im Schnitt 864.000 Menschen. Das ist ein Plus von mehr als 18 Prozent. Vor allem die Zahl der deutschen, ungarischen, rumänischen und tschechischen Beschäftigten ist gestiegen, nur noch wenige Betriebe kommen ohne die Osteuropäer aus. Zuletzt sorgten auch Geflüchtete, etwa aus Syrien oder Afghanistan, für einen weiteren Anstieg bei Bevölkerung und Beschäftigung.

Doch die Zahl der neu geschaffenen Stellen reichte nicht aus, um das zusätzliche Angebot an Einwohnern und Einpendlern aufzunehmen, wie AMS-Wien-Chefin Petra Draxl sagt. Parallel zur dynamischen Beschäftigungsentwicklung stieg also die Zahl der Arbeitslosen. Verdrängt worden sind oft ältere, niedrig qualifizierte Einwanderer.

Die neue Kluft

Das hat auf mehreren Ebenen zu einer wachsenden sozialen Kluft geführt. So ist einerseits in der Stadt der Bedarf nach hoch qualifizierten, gut bezahlten Arbeitskräften deutlich gestiegen. Im internationalen Vergleich arbeiten in Wien viele Menschen im Hochtechnologiesektor, zeigt eine Wifo-Studie.

Im Mittelbau in der Industrie sind die Jobs dagegen weitgehend verschwunden, wie Regionalforscher Mayerhofer sagt. Dafür hat die Beschäftigung im Handel stark zugenommen. Doch der Handel zahlt schlechter als die Industrie. Und: Eine große Zahl an neuen Jobs, die für Menschen ohne Qualifikation oder Sprachkenntnisse Arbeit bietet, ist entstanden. Das klassische Beispiel ist Uber. Diese Jobs bieten allerdings nicht nur viel weniger Geld, sondern auch weniger soziale Sicherheit, etwa wegen fehlender Anstellungen. Was die Konsequenzen dieser neuen Kluft sind und wie groß die Schere tatsächlich geworden ist, wurde bisher laut Wifo-Ökonomen nicht erforscht.

Die hohe Arbeitslosigkeit und der beschriebene Verdrängungseffekt unter Arbeitnehmern hat jedenfalls dazu geführt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Wien im Österreich-Vergleich hoch ist. Das ist ein Problem, weil in dieser Gruppe eine Vermittlung besonders schwer zu schaffen ist.

In Wien ist etwas los: Die Stadt ist gewachsen, in den vergangenen Jahren sind Beschäftigung und Arbeitslosigkeit gestiegen.
Foto: Plankenauer

Hinzu kommt ein Qualifizierungsproblem, Experten sprechen vom "mismatch": Am Arbeitsmarkt wird nicht das angeboten, was bei Unternehmen nachgefragt wird. Laut dem Arbeitsmarktexperten Helmut Mahringer ist der Prozentsatz der Menschen mit ausschließlich Pflichtschulabschluss in Wien tatsächlich höher als im Österreich-Schnitt. Die Zahl der niederschwelligen Jobs reicht für diese Gruppe nicht aus. Wie wichtig der Faktor "mismatch" ist, bleibt aber umstritten: Christian Helmenstein, Chefökonom bei der Industriellenvereinigung, nennt falsche Qualifizierung eines der größeren Probleme am Wiener Arbeitsmarkt. AMS-Wien-Chefin Draxl dagegen sieht dies eher als untergeordnetes Pro blem an. Ihr Argument: Wenn, sind es nur wenige Jobs für Hochqualifizierte, die nicht rasch in der Stadt besetzt werden können.

Corona verändert alles – doch wie nachhaltig?

Wobei Corona alte Gewissheiten noch einmal durcheinanderbringen könnte. Als Folge der Pandemie ist die Zahl der Arbeitslosen in Wien, inklusive Menschen in Schulungen, um mehr als ein Drittel angestiegen (siehe Grafik). In absoluten Zahlen war das der größte Anstieg, prozentuell aber nicht. Doch geht die Angst um, dass es in der Hauptstadt länger dauern könnte, bis sich die Situation normalisiert. Wann der Städtetourismus und Messen wieder auf Vor-Corona-Niveau zurückkommen, ist offen. Auch der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte könnte zurückgehen. Alles hängt also davon ab, wie lange die Pandemie noch dauert und wie dramatisch sie wird. Das trifft allerdings auf alle Bundesländer und nicht nur auf Wien zu. (András Szigetvari, 20.8.2020)