Der Weg zur Kongresshalle, in der Joe Biden redet, führt fast zwangsläufig an William "Judy" Johnson vorbei. An einem Baseballprofi, der in angespannter Haltung, leicht gebückt, die Hände auf den Knien, das Spielgeschehen verfolgt, bereit, jederzeit einzugreifen. Die Bronzefigur vor der Daniel-Frawley-Arena erinnert an Zeiten, in denen Afroamerikaner wie Johnson nicht mit Weißen in einer Liga spielen durften. Jemand hat der Statue eine himmelblaue Maske vor Mund und Nase gebunden, sei es aus Spaß, sei es aus Frust, weil im Stadion Corona-bedingt noch immer kein Ball geworfen werden darf.

William "Judy" Johnson scheint für den Einsatz im Biden-Team bereit zu sein – Maske inklusive.
Frank Herrmann

Gleich gegenüber liegt das Chase Center, ein schmuckloser Betonbau, der dem Wahlparteitag der Demokraten als Bühne dient. Die maskierte Statue, irgendwie passt sie zu einem Kongress, der ganz im Zeichen der Vorsicht steht.

Journalisten, die ins Chase Center wollen, werden nur eingelassen, wenn sie zwei negative Virentests vorweisen können – das Ergebnis an zwei Tagen hintereinander ermittelt. Masken tragen müssen sie natürlich auch. Ungefähr 30 sind es, die am Mittwoch in großem Abstand vor dem Rednerpult sitzen. Ansonsten gibt es keine Zuschauer in der gespenstisch leeren Halle.

Bei US-Wahlparteitagen sitzen Journalistinnen und Journalisten normalerweise Schulter an Schulter. Wegen der Covid-19-Pandemie geht man im Jahr 2020 lieber auf sicheren Abstand – und trägt Maske.
Foto: AFP

Untypische Atmosphäre

Applaudiert wird virtuell, auf einer Leinwand, auf der ab und zu einige Dutzend fröhliche Gesichter auftauchen. Logisch, dass nicht einmal im Ansatz die ausgelassene Stimmung aufkommt, die amerikanische Parteitage seit Jahrzehnten sonst immer geprägt haben.

Milwaukee mag nominell der Austragungsort dieses Konvents sein. Die Musik spielt aber hier, in Wilmington, Delaware. Hier laufen die Fäden der Regie zusammen. Hier lebt Biden, von hier hat er sich schon vor seiner Kandidatenrede am Donnerstagabend täglich zu Wort gemeldet.

Zum Beispiel in dem Moment, in dem er offiziell nominiert wurde und ihn seine Enkel zwischen Regalen voller Bücher mit Papierschlangen feierten, als wäre dies eine Silvesterparty im Arbeitszimmer. Biden ertrug das mit professionellem Lächeln. Ein Marathonläufer der Politik ist endlich am Ziel, erstmals lässt ihn seine Partei als Herausforderer gegen den Amtsinhaber im Weißen Haus antreten. Von Triumphgefühl ist indes nichts zu spüren, dafür sind die Zeiten zu ernst. Der Name Biden steht für Erfahrung, Routine – und neuerdings angesichts der Epidemie auch für besondere Umsicht.

Erster Versuch 1978

Als sich Joseph Robinette Biden jr. zum ersten Mal fürs Oval Office bewarb, da war Alexandria Ocasio-Cortez, die neue Ikone der Linken, noch gar nicht geboren: Damals, es war 1987, musste er vorzeitig aus dem Rennen aussteigen. Er hatte bei Neil Kinnock abgekupfert, dem britischen Labour-Chef, der aus einer Bergarbeiterfamilie stammte und in seinen Worten als erster Kinnock seit tausend Generationen studieren konnte.

Biden wollte eine ähnliche Geschichte erzählen: sozialer Aufstieg dank des Zugangs zu Bildung. Wobei sein Vater nicht unter Tage malochte, sondern mit Autos handelte. Dass er komplette Redepassagen des Briten übernahm, wurde ihm, des Plagiats überführt, zum Verhängnis.

1988 wäre er dann fast an einem Aneurysma, einer krankhaften Gefäßausstülpung, gestorben. Beim zweiten Anlauf hatte er dann parteiintern keine Chance gegen Barack Obama, den Überflieger. Beim dritten präsentiert sich der heute 77-Jährige als der Lebenskluge, der zwar weder rhetorische Glanzlichter setzt, noch kühne Visionen entwirft, bei dem man aber kein Risiko eingeht, wenn man ihn ins höchste Staatsamt wählt.

Erst recht nicht in einer Pandemie, weil dieser Mann genau weiß, was Leid bedeutet, während Donald Trump den Eindruck erweckt, als sei er zu Mitgefühl einfach nicht fähig. "Empathie, geboren aus zu viel Gram", sagte Obama am Mittwoch über seinen einstigen Stellvertreter.

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Vorläufiger Höhepunkt in einem von Tragödien gezeichneten Leben.
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Kaum in den Senat gewählt, mit 29 einer der Jüngsten, die ein Mandat für die illustre Kammer bekommen, muss Biden eine furchtbare Tragödie verkraften. 1972, kurz vor Weihnachten, ist seine Frau Neilia mit den drei Kindern auf einer Landstraße unterwegs, als ein Lastwagen gegen ihr Auto prallt. Neilia und die einjährige Tochter Naomi sterben noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Söhne Beau (3) und Hunter (2) überleben mit schweren Verletzungen.

Familiäre Tragödie

Biden will aufgeben, er denkt an Suizid. Ein Parteifreund überredet ihn, es für sechs Monate im Senat zu versuchen. Seinen Amtseid leistet er in Beaus Klinikzimmer. Um seine Söhne abends ins Bett zu bringen, pendelt er fortan zwischen Wilmington und Washington, rund neunzig Minuten für eine Strecke. Beau stirbt 2015 – die nächste Tragödie im Leben der Bidens.

Joe Biden, hat jemand geschätzt, dürfte netto fast drei Jahre seines Lebens in Zugwagons verbracht haben. Die Treue zur Bahn bringt ihm den Spitznamen Amtrak-Joe ein, nach Amerikas größtem Zugbetreiber. Und einer der Schaffner, denen er häufig begegnete, hat neulich geschildert, was für ein netter Passagier dieser Amtrak-Joe war: Nicht nur, dass er Kaffee fürs Personal spendierte – nachdem Gregg Weaver, so der Name des Schaffners, eine Herzattacke erlitten hatte, rief Biden an, um zu fragen, wie es ihm gehe und ob er Hilfe brauche. Zu der Zeit war er bereits Vizepräsident und fuhr nicht mehr mit dem Zug. Den alten Bekannten hat er dennoch nicht vergessen.

August Muzzi in Angelo’s Luncheonette über Joe Biden: "Nicht die Spur von Arroganz, der trug die Nase nie hoch."
Frank Herrmann

Auch August Muzzi (71), der als Besitzer eines kleinen Imbissrestaurants noch immer täglich außer sonntags in der Küche steht, hat eine Geschichte über den Menschenfreund Biden beizusteuern – jenseits der virtuellen Parteitagsshow, am Tresen von Angelo’s Luncheonette, einst eröffnet von seinem Vater. Der Senator, erzählt er, kam oft mit Beau und Hunter zum Frühstück vorbei. Er habe sich Zeit genommen, um Fragen zu beantworten. Ausnahmslos jeden habe er ernst genommen, "nicht die Spur von Arroganz, der trug die Nase nie hoch", sagt Muzzi.

Obama hat es am Mittwoch so formuliert: "Joe lebte nach der Devise, die ihm seine Eltern mit auf den Weg gaben: Niemand ist besser als du, Joe. Du bist aber auch nicht besser als die anderen."

Schwierige Versöhnung

Nur: Reicht das schon? Kann jemand, so umgänglich er sein mag, tatsächlich Brücken bauen über die Gräben der zerrissenen Vereinigten Staaten hinweg? Kann Biden, um damit anzufangen, die Flügel der Demokraten versöhnen? Die vorsichtigen Reformer der Mitte mit den radikaleren um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez?

Jahrelang Joe Bidens Sprechzimmer in Wilmington: Angelo’s Luncheonette
Frank Herrmann

In keinem anderen Land wäre sie in einer Partei mit Joe Biden, hat Ocasio-Cortez vor Monaten skizziert, welchen Spagat die Demokraten inhaltlich leisten müssen. Der Wunsch, Trumps Amtszeit nach nur vier Jahren zu beenden, beseelt sie zwar so sehr, dass alles andere einstweilen in den Hintergrund tritt. Biden und Sanders haben sechs Arbeitskreise gegründet, um inhaltliche Kompromisse auszuloten – und ein Signal zu setzen.

Doch in Amerika sind es weniger Programme, an denen gemessen wird, wer wie viel Einfluss hat. Zehn-Punkte-Papiere sind etwas für Experten, in der Hauptsache geht es um die Person. Und deshalb geht es auch um die Symbolik von Parteitagsauftritten. Um die Frage, wer wie lange reden darf, was manche tatsächlich abstoppen. Bei John Kasich, einem fahnenflüchtigen Republikaner, 2016 Präsidentschaftsanwärter, waren es drei Minuten und 52 Sekunden. Ocasio-Cortez musste sich mit einer Minute und 36 Sekunden begnügen.

Parteifriede auf Zeit

Cindy McCain, die Witwe John McCains, hat per Video von der Freundschaft ihres Mannes mit Biden erzählt. Tatsächlich galt der joviale Senator aus Delaware in seinen 36 Parlamentsjahren als einer, der auch mit republikanischen Kollegen gut konnte. Er verstellt sich nicht, wenn er den Brückenbau beschwört.

Doch das Grummeln auf der Linken ist schon jetzt nicht zu überhören, weil er das Bündnis mit alten, moderaten Republikanern allzu sehr in den Vordergrund stellt, während junge Aktivisten auf diesem Kongress kaum zu Wort kommen. "Wer glaubt, dass wir den Mund halten und schon irgendwie mitziehen, der kennt uns schlecht", warnt Cori Bush, eine Krankenschwester, die neulich im Namen von Black Lives Matter einen etablierten Parteifreund aus der politischen Mitte bei einer Vorwahl in St. Louis besiegte. "Reih dich ein und steh stramm? So sind wir nicht." (Frank Herrmann aus Wilmington, Delaware, 20.8.2020).