Billers Reichtum an Erfahrungen, nachzulesen in "Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten".

Foto: Lottermann and Fuentes

Schon der erste literarische Titel von Maxim Biller war eine Ansage: Wenn ich einmal reich und tot bin erschien 1990. Und noch bevor man die unter diesem Titel versammelten Erzählungen eines Dreißigjährigen gelesen hatte, konnte man schon begreifen, dass da die Haltung eines Popstars dahintersteckte: lieber schnell leben als schnell reich werden.

Reichtum reimt sich hier eher auf Tod, das Leben davor dient nicht so sehr der Ansammlung von Gütern, und vielleicht auch gar nicht so sehr der von Erfahrungen, sondern von Widersprüchen.

Es war natürlich auch eine Ansage aus dem Geist des Magazintitels, mit dem Biller seit seinen Anfängen als Schriftsteller assoziiert wird: Tempo. Seine Kolumne Hundert Zeilen Hass hatte ihm das Image einer Schnellfeuerwaffe der deutschen Polemik eingetragen.

Ihn lesend erwachsen werden

Kommende Woche nun wird Maxim Biller schon 60, das ging jetzt auch einigermaßen schnell oder eben so schnell, wie es bei der Generation insgesamt ging, die ihn lesend erwachsen und älter wurde. Einer Generation, mit der er eigentlich nie viel zu tun haben wollte, als Der gebrauchte Jude, als den er sich sieht – ein nur literaturbetrieblich bestens integrierter Außenseiter, der nicht zuletzt die deutsche Gegenwartsliteratur insgesamt gelegentlich zum Objekt einer Generalattacke gemacht hat.

Sein Hausverlag Kiepenheuer & Witsch hat zum Geburtstag nun etwas gemacht, was einem literarischen Autor selten bereitet wird: eine Festschrift, herausgegeben von Kai Sina, mit dem Titel Im Kopf von Maxim Biller. Essays zu seinem Werk. Das Geschenk, das Biller damit bekommt, ist vielleicht das, das einem satisfaktionsfähigen Autor wohl sowieso am meisten Freude machen wird: genaue Lektüre.

Literarische Kompensationen

Genauer vielleicht auch als so manche Literaturkritik. Gerade bei Billers umfangreichstem und ehrgeizigstem Roman Biografie (2016) hatten einige professionelle Leser vielleicht zu früh aufgegeben oder sich zu schnell ein Urteil gebildet. Das Bonmot vom "Sextouristen im eigenen Leben" aus einer Besprechung in der Zeit blieb hängen.

Da tut es nun gut, wenn Sarah Pines das Thema Sexualität in Biografie noch einmal gründlich angeht, nämlich nicht so sehr unter dem bei Biller immer naheliegenden (weil von ihm ständig provozierten) Aspekt des Autobiografischen, sondern als eine literarische Konstruktion.

Wenn Forlani, die eine Hauptfigur, also beim Sex gern die Position eines Zerquetschten einnimmt, während Karubiner, die andere, einen mit Gewalt verknüpften Haarfetisch aufreißt, so sind das nicht so sehr verkappte Bekenntnisse eines ehrgeizigen Autors, der mit dem Begriff der Biografie das lesende Publikum zu seinen Lüsten verführen will.

Es sind, schreibt Pines, literarische Kompensationen für die Scham der Juden, immer draußen zu sein, am Eingang der Gesellschaft der Gojim zu kratzen. Hündisch zu sein (wie bei Kafka) ist in Biografie also "nicht das Gegenteil einer vermeintlich ‚normalen‘ Sexualität. Es ist die libidinale Kapitulation vor der Gesellschaft der Anderen."

Damit macht Pines deutlich, dass Biller in Biografie keineswegs das eigene Leben sextouristisch erschließt, sondern dass er an einer prinzipiellen Verhältnisbestimmung seiner selbst als Autor und Erzähler zu der deutschen Gesellschaft arbeitet, die ihn umgibt.

Reflektierender Popliterat

Nicht nur an dieser Stelle macht die Festschrift – ganz wie es ihrem Genre einer Hervorhebung und zwischenbilanzierenden Würdigung entspricht – deutlich, dass Biller als Autor wesentlich reflektierter arbeitet, als es dem Label eines Popliteraten entspricht. Eine besonders schöne Übung von genauer Lektüre steuert Daniel Kehlmann bei, man könnte fast von einer Petitesse sprechen, die aber auch ins Grundsätzliche tendiert.

Am Beispiel der Erzählung Rosen, Austern und Chinin (die erste aus dem schon erwähnten ersten Erzählband) arbeitet Kehlmann heraus, was man bei einer schnellen Lektüre alles übersehen könnte, nämlich einige geradezu verwegene, abenteuerliche narrative Nebenbeimanöver. Der flüssige Text ist in hohem Maß komponiert, die interne Logik absichtlich verschlungen, und Kehlmann legt sie genüsslich frei.

Der Roman von Biller, den man nach den vorliegenden Essays am ehesten wieder zur Hand nehmen würde, ist Die Tochter. Norbert Otto Eke präsentiert dazu einen gelehrten Text, der die intensive Rezeption jüdischer Mystik nachzeichnet, die zur Traumabewältigung jedoch nur bedingt taugt.

Hier findet sich eine neue Variante der Differenzerfahrung, von der auch Sarah Pines schreibt: "Am Ende bleibt nichts als der Ausnahmezustand: als Dauerschleife, in der die anhaltende Nicht-Normalität der gegensätzlichen Gemeinsamkeit von Juden und Nichtjuden schmerzhaft erfahrbar wird." Mit dem Ende des Romans wird die gescheiterte deutsch-jüdische Symbiose auf Dauer gestellt, schreibt Eke.

Billers Differenzdenken

Es ist schade, dass die aktuelle Variante von Billers Differenzdenken in den Essayband nicht mehr Eingang gefunden hat. Im Juni fand er in einem großen Text für die Zeit ein neues Objekt seiner Polemik in der Identity-Politics-Linken, also in einer Linken, die vor allem auf Identitätspolitik setzt. Es ist bezeichnend, dass Biller sich auch davon abgrenzt, so wie er sich auch meist von der deutschen Literatur abgrenzt.

Interessant ist aber das Bündnis, das er am Ende seines "Aufklärungsmanifests" skizziert: eine "neue, vorurteilslose, freie Gesellschaft", in der er aber ausgerechnet den Rammstein-Sänger Till Lindemann zu einem Assoziierten macht, der mit seiner gar nicht besonders zweideutigen Lyrik immer wieder betont politisch nichtkorrekt sein will.

Jüdische Familiengeschichte

In diesem großen Text zeigt sich, was Biller neben seinen Romanen und literarischen Kolumnen, neben seinen Auftritten im Fernsehen (als Teil des Literarischen Quartetts) eben auch sein will: ein Intellektueller, der aus dem Reichtum seiner familiengeschichtlichen Erfahrungen (geboren in Prag, sowjetkommunistisch imprägnierte Herkunft) und seiner jüdischen Geschichte heraus zu einer deutschsprachigen Öffentlichkeit spricht, der er gern einmal unterstellt, sie würde nichts erleben und hätte deswegen nichts zu erzählen und letztendlich auch nichts über sich zu denken.

Über Biller, den "ungerechten" Intellektuellen (Jens-Christian Rabe), gibt es einen Satz von Biller selbst, aus seinem Buch Der gebrauchte Jude: "Journalistische Wahrheiten sind schon morgen Lügen, und darum Verletzungen, die keiner verdient."

Intellektuelle Interventionen

Schon mit seinen Kolumnen Hundert Zeilen Hass versuchte er im Grunde diesen skeptischen Befund zu widerlegen, und dass man sie heute auch als Buch gesammelt lesen kann, hat nicht nur mit dem Kultcharakter zu tun, den sie seinerzeit hatten. Sie stehen nun auch unter dem Anspruch einer Zeit, die sie damals ex negativo doch in Gedanken zu erfassen versuchten. Mit seinen intellektuellen Interventionen nimmt Biller noch viel mehr als mit seinen literarischen Texten eine Position ein, die einer weiterführenden Reflexion bedürfte.

Sein Verlag könnte also, wenn er ihm weiterhin die Treue halten will, woran zu zweifeln es keinen Grund gibt, bereits mit den Vorbereitungen zu einer weiteren Festschrift in zehn Jahren beginnen. Die müsste ihm dann nicht nur das Geschenk einer genauen, sondern auch einer kritischen Lektüre vieler seiner Einlassungen machen. Denn nur so wird die Außenseiterposition, mit der Biller konsequent arbeitet, davor bewahrt, sich zu einer Mythologie zu verklären. (Bert Rebhandl, 23.8.2020)