Erster Prozess im Wiener Landesgericht gegen Kriegsverbrecher. Die Angeklagten auf der Bank v. li.: Polikovsky (acht Jahre), Kronberger, Neunteufel, Frank (alleTodesurteil), wegen der Ermordung von 102 Juden während des Marsches vom KZ Engerau nach Deutsch-Altenburg im März 1945.

Foto: ÖNB-Bildarchiv / Wilhelm Obransky

Vor 75 Jahren, am 14. August 1945 um neun Uhr, begann im Großen Schwurgerichtssaal Österreichs erster Kriegsverbrecherprozess. Er endete nach drei Tagen mit drei Todesurteilen und einer Verurteilung zu acht Jahren.

Die Erinnerung der Zeugen an den Massenmord an hunderten ungarischen Juden während des Engerauer Todesmarsches in der Nacht auf den 28. März 1945 war noch frisch. Die Nazis hatten Europa in ein Leichenfeld verwandelt. Auch von der deutschen Besetzung befreite Länder, welche die Todesstrafe bereits abgeschafft hatten, sahen sich gezwungen, sie 1945 vorübergehend wieder einzuführen.

Lustlos geführte Prozesse

In Österreich folgten bis zum 31. Dezember 1955 weitere 23.476, ab 1948 immer lustloser geführte Prozesse nach dem Verbots- und Kriegsverbrechergesetz (VG und KVG)). 13.607 Schuldsprüche, 30 vollstreckte Todesurteile (von 43 verhängten; elf Verurteilte wurden begnadigt, die meisten zu lebenslangen Strafen, zwei begingen vor der Vollstreckung Selbstmord), 30 Verurteilungen zu "lebenslänglich" und 650 Kerkerstrafen von fünf bis 20 Jahren waren die Bilanz dieser Justiz. Auch zwei Euthanasieärzte büßten die "Ausmerzung lebensunwerten Lebens" (Nazidiktion) mit dem Tod.

Die in öffentlicher Verhandlung verkündeten Urteile waren in der ersten Phase mitunter zu hart, später oft zu milde, in vielen Fällen adäquat. Österreich könnte sich auf seine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen berufen – hätten nicht die massenhaften Begnadigungen das Ringen der Richter und Schöffen um Gerechtigkeit gründlich desavouiert.

Als am 29. Juli 1954 zum letzten Male ein Massenmörder den verdienten lebenslangen schweren Kerker ausfasste, waren die meisten zuvor zur gleichen Strafe verurteilten Täter längst begnadigt, weil ÖVP und SPÖ um die Nazistimmen buhlten.

Um die Nazistimmen gebuhlt

Dieses gewaltige Stück österreichischer Geschichte wurde so gründlich verdrängt, dass die Erinnerung daran auch dann nur noch rudimentär wiederkehrte, als sich die Verdrängung längst erübrigte. Was auch deshalb ein Jammer ist, weil sich die Prozesse im Rückblick als ein gewaltiger Spiegel des Nazi-Alltages erweisen, der auch vernachlässigte Facetten preisgibt, so zum Beispiel das Ausmaß der den Nazis entgegengebrachten Antipathie.

Sie begegnet uns in zahllosen Denunziationsfällen, denn auf jeden Denunzianten kam ja mindestens ein Angezeigter. Denunziation war eine der häufigsten NS-Straftaten; damit, dass sich Norbert Hofer an die Denunzianten zu Maria Theresias und nicht zu Nazi-Zeiten erinnerte, als er von den Corona-Denunzianten schwadronierte, gab er seine Gesinnung zu erkennen.

Die milde Bestrafung von Denunzianten (und Denunziantinnen) war übrigens von Beginn an eine Konstante. Dass manche Richter das schon vor 1938 im Ständestaat bestehende "Denunziantenschutzgesetz" verinnerlicht hatten, ist eine Vermutung.

Im Spiegel der Prozesse blickt man in die Abgründe des vom NS-Staat enthemmten menschlichen Verhaltens. Die Gier war sofort nach dem deutschen Einmarsch von der Leine.

Paula Sch., "Parteigenossin" seit 1931, steht für viele. Sie wirft mithilfe zweier SA-Leute eine Jüdin aus ihrer Wohnung, behält sich auch die neue Einrichtung, und weil das so ausgezeichnet funktioniert, verschafft sie auf die gleiche Weise gleich auch ihrer Friseurin eine Wohnung (Strafe am 7. 12. 1945: zweieinhalb Jahre).

Mit einem Jahr davongekommen

Auch ein typischer Fall: Monika N. wohnte in Untermiete beim Schneidermeister Oskar Janda. Dessen Frau war Jüdin, und es war ihnen gelungen, dies zu verheimlichen. Monika N. aber fand es heraus, rief Margarete Janda zu: "Sie gehören ins KZ!" und zeigte sie wegen Verheimlichung ihrer jüdischen Abstammung an. Frau Janda starb in Auschwitz, ihr Mann aus Gram, und Monika N. hatte die Vierzimmerwohnung.

Eine "speiüble Tat", schrieb die Arbeiter-Zeitung. Der Senat Markus ließ Monika N. am 26. März 1946 mit einem Jahr davonkommen, obwohl das Kriegsverbrechergesetz für Denunziation mit tödlichen Folgen zehn bis zwanzig Jahre Haft vorsah, wenn die Denunziation eigennützige Motive hatte und der Anzeiger vorhersehen musste, dass sie eine Gefahr für das Leben der oder des Betroffenen nach sich ziehen werde.

Der wegen Denunziation angeklagte Dr. M. wurde unter dem gleichen Vorsitzenden trotz überzeugender Beweislage am 14. November überhaupt freigesprochen. Er hatte an der Ostfront am Komplott fanatischer Nazioffiziere gegen ihren katholischen Kommandeur mitgewirkt, indem er dessen nazifeindliche Äußerungen mitschrieb.

Hören ausländischer Radiosender

Dafür hatte der gleiche Senat fünf Tage zuvor, am 9. November, den ehemaligen jüdischen Theaterdirektor Viktor R. zu drei Jahren verurteilt. Er sollte als Kurzzeit-Kapo im Auschwitz-Nebenlager Blechhammer Mitgefangene gequält haben, wofür es aber nur Gerüchte und keinen Augenzeugen gab.

Siegfried V.-H. wandte sich an den "jüdischen Mischling" (NS-Diktion) Hermann Brückelmayer bezüglich der Vermittlung eines Villenkaufes und ersparte sich die Provision, indem er ihn wegen verbotenen Hörens ausländischer Radiosender anzeigte. Eine Hausdurchsuchung ergab, dass Brückelmayer gar keinen zum Auslandhören geeigneten Radioapparat besaß. Der Gestapobeamte B. wollte sich für ihn einsetzen, doch sein Vorgesetzter erklärte ihm, er solle keinen Finger rühren, wen V.-H. anzeige, der werde ohne Einvernahme ins KZ geschickt.

Das Opfer starb in Buchenwald. V.-H. war ein "V-Mann", ein professioneller Gestapospitzel. Er wurde im Oktober 1947 aus der U-Haft entlassen, obwohl sein Fall anklagereif war. Gute Freunde sorgten dafür, dass der Sprössling einer noblen Familie erst 1950 vor Gericht stand, als alles nicht mehr so heiß gegessen wurde. Er kam am 7. Juni mit zwei Jahren davon.

Ein zweiter Eichmann

Auch Anton Brunner, "Brunner II", bereicherte sich, doch ihm ging es vor allem darum, so viele Juden wie möglich in den Tod zu schicken und keinen auszulassen. Der Sachbearbeiter und Ressortleiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" war für die Verschickung von 48.000 Wiener Juden verantwortlich, ein zweiter Eichmann, doch alles andere als ein Schreibtischtäter. Es machte ihm sichtlich Freude, seine Opfer zu schlagen und zu treten, er riss alten Frauen die Ohrgehänge aus und ließ sie im Winter im Freien mit kaltem Wasser übergießen.

Er nahm einem alten Mann mit den Worten "Die werden Sie ohnehin in Polen nicht mehr brauchen" die goldene Zahnprothese ab, und er ignorierte sogar von Hermann Göring unterschriebene Schutzbriefe. Anton Brunner wurde am 10. Mai 1946 zum Tod verurteilt und genau zwei Wochen später aufgehängt. Kein anderes Todesurteil wurde so schnell vollstreckt. Offensichtlich sollte verhindert werden, dass er gegen die für die Verschickungen zuständigen Wiener Gestapobeamten aussagen konnte.

Wenn es einen Satz gibt, in dem sich das Wesen des NS-Regimes sammelt wie im Brennpunkt einer Linse, dann war es die vom Zeugen Bienenfeld mitgehörte telefonische Aufforderung des mit den Möbeln der verschickten Juden gute Geschäfte machenden Gestapobeamten W. an den für die Verschickungen zuständigen Gestapobeamten R., er möge doch wieder einen Judentransport zusammenstellen, denn seine Magazine seien leer.

Begnadigungen am laufenden Band

Die Justiz der Volksgerichte war eine Sonderjustiz. Die Strafen wurden sofort angetreten, gegen die Urteile der aus zwei Berufs- und drei Laienrichtern bestehenden Senate gab es keine Rechtsmittel, aber die Überprüfung des Urteils durch die Generalprokuratur. Wie viele Urteile auf diese Weise ausgehebelt wurden, wurde bisher nicht erhoben.

Viele Verfahren wurden wieder aufgenommen und eingestellt, der Bundespräsident unterschrieb ab 1949 Begnadigungen am laufenden Band. Jahrelang wurde beteuert, "echte" Kriegsverbrecher kämen für Begnadigungen nicht infrage, doch Ende 1955 war von allen Verurteilten nur noch etwas mehr als ein Dutzend in Haft. Und die, wie man vermuten darf, auch nicht mehr lange. (Hellmut Butterweck, 22.8.2020)