Foto: Broschiert, 558 Seiten, € 17,50, Heyne 2020 (Original: "The God Game", 2019)

Quirliger könnte der jüngste Roman des Wiener Autors Peter Nathschläger kaum beginnen: Die kubanische Tanzgruppe Vapor y Fuego schwebt auf den Kanarischen Inseln ein und macht ihr Gastspiel zu einer einzigen Party aus Sex, Rum und purer Lebensfreude. Und dann die Vollbremsung. Der Manager der Truppe macht sich mit Geld und Pässen aus dem Staub, die Tänzer bleiben zurück wie entkräftete Schmetterlinge, die irrtümlich in die Nacht geflattert waren.

Das unerhörte Ereignis

Mit Gelegenheitsjobs schlagen sich die Gestrandeten mehr schlecht als recht durch, bis Choreograph Miel ein Projekt aufgabelt, das die Wende bringen könnte: Die Mitglieder von Vapor y Fuego sollen simultan auf den einzelnen Inseln der Kanaren einen Tanz aufführen, der im Fernsehen übertragen wird. Für die Choreographie hat sich Miel von einem Buch inspirieren lassen, das der Santería gewidmet ist, jener von Kuba ausgegangenen Religion, in der sich katholische Heilige und westafrikanische Götter zu einem magischen Ganzen verschmolzen haben. Und die unbeabsichtigte Magie tut ihre Wirkung: Die Inseln lösen sich von ihren Gesteinssockeln und entschweben in den Himmel.

Wer schon andere Romane Nathschlägers gelesen hat, wird davon vielleicht nur halb so verblüfft sein. Schließlich haben Vapor y Fuego mit den Kanaren auch das Einzugsgebiet des Exil-Wiener Ehepaars Ostrowski erreicht. Und diese beiden, Maler Richard und Schriftsteller Frank, scheinen eine gewisse Neigung zu haben, in übernatürliche Ereignisse verstrickt zu werden. Und sie sind auf eine, sagen wir, höchst komplizierte Weise miteinander verbunden ... oder genauer gesagt voneinander getrennt. In dieser Version der Wirklichkeit jedenfalls ist Frank verschwunden und Richard allein, das war schon einmal umgekehrt. "Coda" enthält eine Menge Querverbindungen zu früheren Erzählungen Nathschlägers, etwa "Fluchtgemälde" oder dem Doppelband "Die Inseln im Westen". Die zu kennen, wäre definitiv kein Schaden. Man kommt aber auch ohne durch.

Wunder mit Haken

Apokalyptische Visionen wie auch Eskapismuswünsche ziehen sich seit jeher durch Nathschlägers Erzählungen. Der Aufstieg der Kanaren vereint beides in sich: Als der Tanz von Vapor y Fuego gestört wird, krachen vier der Inseln ins Meer zurück, der folgende Megatsunami tötet abertausende Menschen. In der Folge verschlechtern sich die Verhältnisse am Boden zusehends. Kriege, religiöser Wahn, Terrorismus mit Atomwaffen: Zwar werden den Inselbewohnern (und uns mit ihnen) nur kleine Schlaglichter gewährt, doch die zeigen, wie die Welt immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät.

Man könnte jetzt annehmen, dass die schwebenden Inseln das paradiesische Gegenmodell dazu verkörpern würden – erst recht, als deren Bewohner erkennen, dass ihnen der Effekt auch Selbstheilungskräfte und damit die ewige Jugend verleiht. Doch so einfach macht's einem Nathschläger nicht. Die Quasi-Unsterblichkeit zieht die unappetitliche Mode nach sich, Videos von Selbstverstümmelungen auf YouTube zu stellen. Und mit dem "Aschekönig" – einem Teenager, den das ewige Leben in präpubertärem Zustand eingefroren hat wie die arme Claudia in "Interview mit einem Vampir" – wandert nun ein Untergangsprophet über die Inseln, dessen Anhänger das Land in Schutt und Asche legen. Richard Ostrowski, der die postapokalyptische Version einer schwulen Wahlfamilie um sich schart, wird in diesem Szenario zum Hoffnungsträger.

Und so wie Wundersames und Grauenhaftes hier untrennbar miteinander verzahnt sind, vereint auch Nathschlägers Sprache das vermeintlich Unvereinbare: mal poetisch, mal derb, häufig sexuell aufgeladen, dann wieder ausgesprochen nüchtern. Auch mein persönliches Lieblingsmuster – Sarkasmus und trockener Humor – kommt nicht zu kurz. Etwa als ein kurz vor dem Ableben stehender Greis seine Manneskraft zurückkehren fühlt: "Ich war heute wohl etwas derb zur Nachtschwester, dürften wohl meine Hormone mit mir durchgegangen sein." "Was für Hormone, Alfredo, da staubts doch nur noch raus." – Das einzige wirklich unliebsame sprachliche Element ist die Unzahl an Tippfehlern. Der Verlag dürfte wirklich gerne sein Korrektorat ausbauen. Oder vielleicht überhaupt eines gründen.

Frage der Übersicht

Mit dem Voranschreiten der Handlung wird es übrigens nicht automatisch klarer, wohin das alles letzten Endes führen wird. Die Protagonisten taumeln auf der Suche nach Liebe, Vergebung, vielleicht gar dem Sinn, der hinter allem steckt, oder wenigstens nach ein bisschen Glück durchs schwebende Chaos. Und ein wenig spiegeln sie damit auch das Bemühen wider, beim Lesen die Übersicht zu behalten. Das Ensemble ist doch ziemlich groß geraten, da wäre mir persönlich ein stärkerer Fokus lieber. Ein wirklich klares Zentrum gibt keiner der Protagonisten ab, nicht einmal Richard.

Aber noch hat Nathschläger mit diesem Kosmos ja nicht abgeschlossen, dem Titel "Coda" zum Trotz. Ein weiterer Roman ist schon in Vorbereitung und soll unter anderem offenlegen, was es mit dem abwechselnden Auftreten von Frank und Richard auf sich hat. Was der Autor dazu vorab angedeutet hat: Hui!