Reinhart Hosch / Helmuth A. Niederle (Hg.): "Notfall: Covid-19. Texte zu und in der Pandemie", 22 Euro / 390 Seiten, Löcker-Verlag, Wien 2020
Cover: Löcker-Verlag

Dieser Sammelband erscheint unter der Ägide des PEN-Clubs Österreich, dem die Herausgeber in leitender Position angehören und mit dem sich ein großer Teil der BeiträgerInnen verbunden fühlt. Unter den AutorInnen finden sich bekannte Namen aus der Essayistik der österreichischen Printmedien, aber auch Texte von sehr jungen Denkschreibenden und SchriftstellerInnen aus anderen Ländern und Kontinenten in Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.

Grafiken, u. a. von indischen Künstlern, fungieren als Illustrationen. Besonders eindrucksvoll sind die auch den Einband schmückenden Evokationen der Mikrobenformen durch zusammenkomponierte Spitzendeckerln, die einen Bezug zur österreichischen bzw. mitteleuropäischen Traditionswelt herstellen (Eva Petrič) . Aber das Hauptgewicht liegt auf den Versuchen geistig-seelischer Konfrontationen mit einem viralen Elementarereignis der Menschheitsgeschichte.

Kritisch und weltoffen

Zahlreiche, oft sehr kurze Beiträge bringen schlaglichtartige Darstellungen krisenbedingter Befindlichkeiten und Verhaltensweisen. Der Rezensent könnte versuchen, auf die einzelnen Beiträge einzugehen, immer mit dem Risiko, sich in der Vielfalt zu verlieren.

Handelte es sich um eine Sammlung von Forschungsarbeiten, zum Beispiel aus den Gebieten der Soziologie, Epidemiologie, Geschichtswissenschaft, wäre deren jeweiliger Beitrag zum Erkenntnisfortschritt zu würdigen. In den hier vorliegenden, mit poetischen Texten untermischten Essays gibt es in dem Maße Bezüge zu einzelnen Disziplinen wie Sprachwissenschaft, Zeitgeschichte, Musikwissenschaft, Jurisprudenz, als sie einzelne Argumente stützen können.

Insgesamt aber kann sich im Leser der Eindruck festigen, es mit einem Kreis von kritischen und weltoffenen Intellektuellen mit kulturpolitischen Interessen zu tun zu haben, die sich mit einer für sie selbst und ihre gesamte Umwelt neuartigen und beunruhigenden Lebenslage auseinandersetzen wollen.

Persönlich und gefühlsstark

Da kein Text eines literarischen oder politischen Stars gleichsam medienhektische Aufmerksamkeit erzwingt, liegt es näher, nach den Gemeinsamkeiten der sprachlich wie argumentativ feingeschliffenen Beiträge zu fragen. Neben dem persönlichen und oft gefühlsstarken Ton vieler Texte fällt insbesondere eine allgemeine Haltung auf, die man als alternativ, ja sogar als oppositionell bezeichnen könnte.

Angesichts einer tonangebenden österreichischen Bundesregierung unter konservativer Führung tendieren die Beiträge insgesamt zu einer Orientierung, die heute oft als linksliberal bezeichnet wird. Laut Impressum wird das Buchprojekt durch die von einer rot-grünen Koalition geführte Gemeinde Wien ebenso wie von dem Ministerium für Kunst und Kultur unter der Leitung des Grünen-Chefs Werner Kogler gefördert.

Selbst wenn der Leser diese Affinität zur rot-grünen Sphäre des politischen Lebens in unserem Land nicht teilt, wird er sich vielleicht als Demokrat an den alten Spruch von der anzuhörenden altera pars erinnern und sich für diesen zweifellos gewichtigen Beitrag zur anlaufenden Diskussion über das Pro und das Contra des behördlichen Umgangs mit der Krise interessieren.

Denken und Fühlen

Am Ende der Lektüre aller Texte meldet sich also die Lust, die Fülle des Dargebotenen zu überschauen und nach einer großen Linie zu fragen, einer gemeinsamen Vision, die das Buch in seiner Ganzheit prägt. Auf dieser Suche nach einem verbindenden Faden kann der Nachdenkende auf das Desiderat eines neuen Denkens und Fühlens stoßen.

Der Notfall Covid-19 führt überall zu Absperrungen menschlicher Individuen, die je nach der sozialen Situation der Betroffenen als belastend bis qualvoll (in Indien und Afrika) erlebt werden, aber auch schöpferische Kräfte hervorrufen. Der Ansporn zur Aktivität wirkt auf den Einzelnen / die Einzelne mobilisierend, hat jedoch zugleich überall Auswirkungen auf Zustand und Verhalten von Gemeinschaften.

So in Afrika, wenn sich dort Intellektuelle zusammenschließen, um die Staatschefs zu einer aktuellen Form panafrikanischer Emanzipation zu drängen. So in Europa und Österreich, wenn die Krise kritische Reflexionen auslöst, welche sich mit den von der Abwehr des Virus motivierten Einschränkungen der Grundrechte des Menschen auseinandersetzen und der Diskussion über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft neue Brisanz verleihen.

Es reicht nicht, sagen die Texte, sich in der Gewissheit zu wiegen, dass es die Menschheit früher oder später wieder schaffen wird. Die von Covid-19 ausgeübte Zumutung wird sich demnach nicht in "neuer Normalität" verflüchtigen, sie fordert vielmehr einen Kreativschub, vergleichbar mit jenem, der das heliozentrische Weltbild begründete.

Schöpferkraft und Eigennutz

Als die althergebrachte Basis, von der sich die menschheitliche Resilienz durch ein neues Denken wegentwickeln müsste, kann die verbreitete und systemisch gelebte Überzeugung gelten, dass es die Natur eigentlich gar nicht gibt, weil die schöpferischen Aktivitäten des Menschen den Planeten und das Weltall von Grund auf zum eigenen Nutzen verändert haben und dies immer weiter tun und tun werden.

Denn, so lassen sich die Beiträge zu diesem Buch zusammenschauen, durch das Virus präsentiert sich der Umweltbezug der Menschheit in neuem Licht. Auf der einen Seite dieser Beziehung steht der Kosmos in seiner todbringenden Härte, vom heißen Erdkern und seinen Vulkanen bis zum kalten lebensfeindlichen Weltraum.

Auf der anderen Seite die vom Menschen nach und nach in Besitz genommene "weiche" Natur unseres Planeten, die über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg besiegte, vergewaltigte und kaputtgemachte, die sich seit einiger Zeit anschickt, auf die Seite des tödlichen Kosmos, den einst Albert Camus mit dem Absurden gleichsetzte, überzuwechseln und Kräfte der Zerstörung zu entfesseln, von den Viren bis zum Klimawandel.

Versöhnung und Zusammenhalt

Der Übergang zu einem neuen Denken und Fühlen bedeutet die Ermöglichung eines Übergangs vom Risiko einer selbstverschuldeten Vernichtung zu einer Hoffnung auf Rettung durch Versöhnung mit dem "weichgemachten" Planeten. Eine Chance auf diese Rettung besteht aber nur, wenn sich der Mensch vorerst mit sich selber versöhnt, auf dem Wege der Gerechtigkeit und des empathiegeleiteten Friedenhaltens bzw. Zusammenhaltens.

"Nicht die sind die Überlebensfähigsten, die sich gegen die Natur, gegen den Anderen und das Andere behaupten wollen, sondern die sich mit ihr und ihm entwickeln." (R. Hosch, S. 357) Damit reden die in diesem Buch versammelten Texte zugleich einer vermehrten Beschäftigung mit der Geschichte das Wort, nicht nur sektorspezifisch im Hinblick auf Seuchen früherer Zeiten, sondern auch und vor allem zur Eindämmung der "Pest" des Nationalismus.

Postpandemische Entwicklung

Handelt es sich nun um ein Vexierbild der Interpretation oder ein tatsächlich auszumachendes Grundmuster im Mosaik der nahezu 60 Annäherungen, die das Buch enthält? Sie sind explizit, apodiktisch, geradezu polemisch, besonders wenn die AutorInnen jung sind.

"Als der Mensch den Respekt vor der Natur verlor, in fremde Lebensräume vordrang und dabei den Artenreichtum dezimierte, ging er ein Risiko ein. Es muss wohl die berühmte menschliche Hybris gewesen sein, die ihn dazu trieb, sich Fauna und Flora, Böden und Gewässer untertan zu machen. (…) Mit der Zivilisation kamen Ungleichheit und Ausbeutung, beziehungsweise ihre späteren Synonyme Wirtschaft, Wachstum, Handel in die Welt. Wir alle sind also mit der ‚Erbsünde‘ der Zivilisation geboren." Dieser Text ist von Christina Kainzbauer, Studierende der Rechtswissenschaften und Mitglied des Wiener Arbeitskreises "Junger PEN".

Der sehr ähnlich argumentierende Westschweizer Jean-Jacques Rousseau galt im 18. Jahrhundert noch als Querdenker, heute könnte er als Wegbereiter von Büchern wie diesem gelten, gerade weil die Jungen kein Wiederhochfahren des Vorher wollen, sondern ein kompromissloses Umerzählen der mehr oder weniger alten Geschichten, aus denen eine ganz neue postpandemische Entwicklung erwachsen soll.

Nicht die Rückkehr zu früheren scheinbar bewährten Modellen bringt lebbare Lösungen, schreibt Eleonora Bögl (schon wieder eine Junge!) in ihrem Manifest am Ende des Bands, sondern allein die Entschlossenheit, die Geschichte einer überlebensfähigen und -würdigen Menschheit erst einmal beginnen zu lassen. (Fritz Peter Kirsch, 22.8.2020)