Es ist Dienstagnachmittag, 16 Uhr, Mitte August, es hat 28 Grad, leichter Wind, perfektes Sightseeing-Wetter, und in der Lobby des Hotel Sacher schläft ein Mann, aber das ist kein Problem, denn es ist niemand da, den das stört. Er schläft an einem wirklich würdevollen Ort, die Lobby des Sacher ist nämlich so ziemlich das imperialste Wien, das man sich mit Geld kaufen kann: Blitzblank gewachstes Fischgrät, rote Lampen, rote Fauteuils, rote Empire-Stühle, die so aussehen, als hätte sie jemand aus Sisis Privatgemächern besorgt oder zumindest aus der Präsidentschaftskanzlei.

Schon gehört? Lassen Sie sich diesen Artikel vorlesen!

Es gibt Luster, schwere Teppiche, holzvertäfelte Wände, an denen überdimensionierte Ölschinken hängen, Boote auf schwerer See zum Beispiel, vielleicht sollen sie den Betrachter daran erinnern, dass er selbst gerade einen sehr sicheren Hafen angesteuert hat. Der schlafende Mann zum Beispiel, der ganz bestimmt.

Foto: Heribert Corn

Die Leere nach Corona

Normalerweise ist das hier das Epizentrum des Hauses. Von der Lobby geht es zur Rezeption, durch die Lobby muss, wer zu den Aufzügen will, die Lobby verbindet den Eingang mit dem Gourmet-Restaurant und der sogenannten blauen Bar. Hier kommt jeder durch, der zu einem Termin in einen der Konferenzsäle des Sacher muss oder sich frech am Concierge-Tisch vorbeigestohlen hat, weil er nur mal schauen will. Es wuselt hier also normalerweise, mindestens 15 Stunden pro Tag gehen die einen und kommen die anderen, doch jetzt pfeift da der Typ mit seiner roten Hose und dem einen Tick zu weit offenen blauen Hemd, ein Italiener ziemlich sicher, die nackten Füße in den Leder-Mokkasins verraten ihn. Darf man da jetzt überhaupt eintreten? Soll man sich wirklich zu einem schlafenden Mann setzen, auch wenn es eigentlich eine Hotellobby ist – ist das nicht viel zu intim?

Es stellen sich viele Fragen in diesen Tagen im Hotel Sacher, und die wohl wichtigste ist: Hat es überhaupt offen?

Corona hat eine gewaltige Schneise durch die österreichische Hotellerie gezogen. Doch während die Urlaubsdestinationen an den Seen seit Ferienbeginn ihre Betten doppelt und dreifach verkaufen könnten, geht es den Stadthotels nach wie vor dreckig, und je besser und teurer das Hotel ist, desto schlechter ist die Auslastung. Ist auch klar: Diese Hotels leben zuallererst von Kongressen, die es derzeit nicht gibt. Und ansonsten zahlen vor allem Reisende aus den USA und Fernost sowie Russen und Araber Zimmerpreise von 500 Euro aufwärts, doch auch die kommen im Moment nicht nach Europa. Einige Luxushotels in der Stadt haben derzeit gar nicht offen, das Sacher schon, aber auch nur eingeschränkt: Das Gourmetrestaurant ist geschlossen, die Seminarräume auch. Das Spa ist gesperrt, und Massagen gibt es nur gegen Voranmeldung.

So gut wie alle der 450 Wiener Mitarbeiter des Sacher sind derzeit auf Kurzarbeit, was man auch als normaler Wiener mitbekommt. Wenn man heute am Sacher vorbeigeht, dann sieht man nur selten einen der sogenannten Wagenmeister: So heißen die Mitarbeiter mit Hut und knielangem rotem Mantel, die sonst zu zweit oder sogar dritt vor dem Hotel stehen, ankommenden Gästen die Autotür aufhalten, das Gepäck abnehmen und dann das Auto parken. Kurzarbeit, denn so gut wie nie fährt derzeit beim Sacher ein Auto vor und bringt Gäste.

Wo sind die alle?

Aktuell sind nur zwei der sieben Stockwerke des Hotels geöffnet, von den 152 Zimmern sind in dieser Woche im Hochsommer keine zehn Prozent vermietet.Im vierten Stock, das ist eine der beiden geöffneten Etagen, kann man sehr lange Runden gehen, bis man auf ein Indiz menschlichen Lebens trifft – auf die Frau vom Housekeeping, die nach der dritten Runde mal nachschauen kommt, was denn da für ein Irrer Runden läuft. (Eine Runde sind übrigens 206 Schritte, und sie dauert bei normalem Tempo 2 Minuten und 15 Sekunden, gelaufen 26 Sekunden weniger, es ist ein bisschen verwinkelt, außerdem gibt es insgesamt elf Stufen nach oben und drei plus acht nach unten. Anm.) Selbst das familiärste Hotel wird bei so einer geringen Auslastung wohl ganz schön spooky. Aber wie fühlt sich das erst in einem riesigen Komplex wie dem Sacher an, das eigentlich aus sechs Häusern besteht und das ganze Karree von der Oper über die Kärntner Straße, die Maysedergasse und den Albertinaplatz umfasst? Das wäre dann die nächste Frage.

Die Gänge sind immer menschenleer, egal ob man seine Runde um drei Uhr nachmittags, elf Uhr abends oder sechs Uhr früh läuft. Im ganzen Haus ist es leise, man hört keinen Ton und wenn man sich einmal in seinem Leben in einem Hotelzimmer wie ein Rockstar benehmen will, jetzt wäre der Zeitpunkt. Wobei, nein, geht es beim Rockstarsein nicht auch darum, dass es Zimmernachbarn mitbekommen und sich massiv darüber ärgern?

Auch wenn das Hotel derzeit auf Minimalbetrieb gefahren wird, es funktioniert – vom Zimmerservice bis zur Klimaanlage.
Foto: Heribert Corn

Dienstagabend, blaue Bar, knapp nach neun Uhr abends. Der Italiener in der roten Hose schläft nicht mehr, zumindest nicht in der Sacher-Lobby oder der Sacher-Bar. Stattdessen ist jetzt hier ein deutsches Ehepaar, er nippelt an seinem Bier, sie an ihrem Tee. Sie reden so viel miteinander, wie das ein durchschnittliches Ehepaar nach vierzig Jahren eben tut. Da sitzt außerdem ein allein reisender Mann, der sich mit Bier und Buch in die Lobby zurückgezogen hat, er liest erst PMHistory und wechselt dann zu Altdeutsche Sagen, was schräg, aber zumindest konsequent ist.

Und dann sind da noch drei Frauen, die sehr laut sind und sich darüber unterhalten, dass dieser eine ORF-Politologe, nein, nicht der Filzmaier, sondern der andere, doch ja, Glatze hat der auch, dieser ORF-Typ, oder ist er doch von ATV?, jedenfalls wohnt er wohl im 17. Bezirk, eine der drei Frauen sieht ihn häufig beim Einkaufen. Bevor sie verraten, was er so einkauft, verlassen sie die blaue Bar, wahrscheinlich fahren sie in den 17. und suchen Peter Hajek.

Just the two of us

Es ist ein komisches Gefühl, in einer Bar zu sitzen und jedes Wort zu verstehen. Nicht nur akustisch, sondern auch inhaltlich. Gehört es nicht zum Sinn einer Hotelbar, in ein Sprachengewirr einzutauchen? Das Internationalste in diesen Tagen ist der Barkeeper, er kommt aus Ägypten. Kurz darauf verlässt auch das deutsche Ehepaar die Bar, wahrscheinlich schweigen sie sich am Zimmer weiter an, und nur wenig später zieht sich auch der altdeutsche Freund zurück.

Es ist noch nicht mal zehn Uhr abends, und die Sacher-Bar ist so leer wie am Nachmittag, nur dass sie am Nachmittag auch offiziell geschlossen war. Jetzt um 22 Uhr hat die Bar aber noch offen, und dass ausgerechnet jetzt Just the two of us von Grover Washington Junior vom Band läuft, ist zwar bestimmt Zufall, aber ein netter. Wahrscheinlich kann man derzeit nirgendwo so gut alleine sein wie in einem Luxushotel mitten in der Stadt, verglichen mit dem Sacher ist wahrscheinlich sogar ein Einkehrwochenende in einem Kloster ein geschwätziger Hühnerstall.

Und im Sacher gibt es in jedem Fall die besseren Drinks.

Aber was macht man so allein im Sacher? In der Bar sitzen bleiben ist eine gute Idee, man kann weiter Gin Tonic trinken, bei Preisen von 20 Euro pro Gin Tonic aufwärtsgeht das aber auch nicht so lange, wenn man jetzt kein Russe ist. Zeitungen kann man mangels aufliegender Zeitungen nicht lesen, also bleibt Zeit für komische Dinge – zum Beispiel dafür, die Ehrenwand anzusehen. Dicht an dicht hängen da die Fotos von Prominenten aus allen Epochen, die dem Sacher freundschaftlich verbunden sind. Dagmar Koller hängt da, ganz unten bei den Showstars, gemeinerweise nicht neben ihrem Helmut, aber zumindest in Sichtweite. Ansonsten hängen bei den Showstars, in dieser Reihenfolge, Hera Lind, Heino, Otto Waalkes und Giovanni di Lorenzo, und es ist nicht ganz klar, für wen diese Gruppierung peinlicher ist: für den Zeit-Chefredakteur oder doch für den Komiker.

Dabei ist es absurd, dass sich dutzende Mitarbeiter um eine Handvoll Gäste kümmern.
Foto: Heribert Corn

Gleich daneben hängen die politischen Freunde des Hauses, ein gewisser ÖVP-Überhang ist nicht zu verleugnen. Es gibt Porträtfotos und Schnappschüsse von Thomas Klestil, Josef Riegler, Alois Mock und Christoph Leitl (und natürlich ist es ein Foto, auf dem Leitl lacht wie ein Profiboxer). Sozis gibt es hier wenig, eigentlich nur Zilk (aber war der wirklich ein Sozi?) und Bundespräsident Heinz Fischer. Apropos Bundespräsident: Auch Alexander Van der Bellen ist zu sehen, allerdings nur als Beifang auf einem Foto des US-Botschafters Trevor Traina.

An der Wand mit den Politikern hängen überwiegend Männer, warum ist das so – und warum sind sie ausgerechnet vor dem Frauenklo aufgehängt? Und warum hängt kein Bild von Karl-Heinz Grasser, das ist ein bisschen überraschend. Schließlich hängt sogar Nikolaus Michalek auf dieser Wand. Wenn man allen Hotelgästen, die ihn erkennen und dann auch noch wissen, wer er mal war, einen Grappa springen lassen würde, dann wäre diese Flasche wohl noch unberührt.

Das Zimmer selbst ist natürlich großartig, Sacher, fünf Sterne, es ist nicht umsonst eines der Leading Hotels of the world. Sobald man die Zimmertür von innen schließt, ist man in seiner eigenen Welt. Alles, was drumherum stattfindet, ist egal, egal ob drumherum New York, Beirut oder die Berge Colorados liegen. Wobei, nein, Blödsinn, das natürlich nicht. Gehört es bei Spitzenhotels nicht immer dazu, dass sie dich die Welt rundherum vergessen lassen und dir das Gefühl geben, allein auf dieser Welt zu sein? Oder zumindest im absoluten Mittelpunkt?

Denn auch wenn das Haus derzeit auf Minimalbetrieb gefahren wird, es funktioniert perfekt, vom Zimmerservice bis zur Klimaanlage. Und das ist schon bemerkenswert: In diesen Tagen spielt die Besetzung des Sacher ihr übliches Stück, genauso wie an jedem normalen Tag im Jahr, nur dass man einer von einer maximal Handvoll Gästen ist. Aber während man es selbst den besten Schauspielern anmerkt, wie erniedrigend sie es finden, wenn sie nur vor zwei Zusehern spielen, zeigt die Sacher-Belegschaft in keiner Sekunde, wie absurd sie es findet, dass sich dutzende Mitarbeiter gerade nur um dich kümmern.

Foto: Heribert Corn

Und es war übrigens noch nie so leicht, sich wie ein Stammgast in einem Hotel zu fühlen, in dem man zuvor noch nie war. Schon am zweiten Tag kennt man nicht nur jeden Mitarbeiter, es kennt einen auch jeder Mitarbeiter.

VIP für ein paar Stunden

Und tatsächlich ist das ein gutes Gefühl, wenn man morgens aus dem Sacher geht, um in der Stadt ein paar Erledigungen zu machen oder ins Büro zu gehen. Ein Stadthotel, aus dem man nicht rausgeht, wäre schließlich nicht im Sinne des Erfinders. Es dauert nicht lange, und man versteht ein wenig, warum Menschen wie der Opernkritiker Marcel Prawy (hier) oder Udo Lindenberg (im Hotel Atlantic, Hamburg) jahrelang im Hotel gewohnt haben. Es fühlt sich gut an und stärkt das Ego, und vielleicht ist das auch der Grund, warum Menschen in besonderen Lebenslagen gerne ins Hotel ziehen.

Vorzugsweise Männer nach einer Trennung übrigens, zumindest wenn sie sich es leisten können. Wobei auch das gerade etwas leichter geworden ist: Weil die internationale Klientel derzeit fehlt, versucht das Sacher, seine Zimmer an die heimische Laufkundschaft zu bringen. Ab 333 Euro pro Zimmer kann man nun im besten Hotel der Stadt einchecken, das ist viel, aber kein Vergleich zu normalen Tagen, in denen die Sacher-Suiten um 2.000 Euro aufwärts an die Gäste gehen.

Foto: Heribert Corn

Wenn man heute im Sacher andere Menschen treffen will, dann muss man in eines der Cafés gehen. Dort gibt es nach wie vor sehr viele Touristen, die zumindest einmal im Leben eine Original Sacher-Torte essen wollen – auch hier zahlt sich der Hotelzimmerschlüssel aus, man wird an den Touristen vorbei zu einem Platz geschleust und bekommt schon am zweiten Tag automatisch eine Melange, und zwar mit Milchschaum, nicht wie die Touristen mit Schlag. Dort kann man erleben, wie sich das Sacher wohl ohne Corona anfühlen würde. Voll bis unter die Decke, geschäftig –und vom Band läuft der Donauwalzer, wie in einer AUA-Maschine bei der Landung in Schwechat. Das ist wahrscheinlich ein Zufall.

(M. H., 23.8.2020)