Bild nicht mehr verfügbar.

Die Präsidentschaftswahl am 9. August will Alexander Lukaschenko erneut gewonnen haben – offiziell mit 80 Prozent. Seither wird im ganzen Land gegen Wahlbetrug protestiert.

Foto: AP / Sergei Grits

Minsk im März 2019. Der Konvoi von Bundeskanzler Sebastian Kurz samt politischer Entourage und österreichischer Journalistendelegation gleitet durch die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetrepublik Belarus (Weißrussland). Mit im Gepäck: ein Paar Ski aus Österreich – das Gastgeschenk für Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko.

Die Idee für das Mitbringsel war natürlich recht naheliegend. Immerhin kam mit Kurz der Regierungschef einer Skination zu Besuch, und auch Lukaschenko wedelt angeblich gerne über die Piste. Gleichzeitig drängte sich da aber noch ein anderes Bild auf: jenes von Lukaschenko und Russlands Präsident Wladimir Putin, eng zusammengerückt auf dem Sessellift, aufgenommen nur wenige Wochen zuvor im russischen Sotschi.

Ob Zufall oder Absicht: Die Anekdote illustriert perfekt die Schaukelpolitik Lukaschenkos zwischen dem großen Bruder in Moskau und dem Westen – und die Bemühungen beider Seiten, den seit einem Vierteljahrhundert autoritär regierenden Staatschef nicht ganz an die jeweils andere Hemisphäre zu verlieren.

Ein Land als Pufferzone

Die Karten in diesem Spiel liegen offen auf dem Tisch: Russland betrachtet Belarus als Pufferzone zwischen dem eigenen Territorium und jenem der Europäischen Union beziehungsweise der Nato. Seinen Einfluss in Minsk macht Moskau nicht zuletzt dadurch geltend, dass die belarussische Wirtschaft zu einem Gutteil am Tropf des großen Nachbarn im Osten hängt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Wladimir Putin (links) und Alexander Lukaschenko 2019 beim Skifahren im russischen Sotschi.
Foto: AP / Sergei Chirikov

Im Westen wiederum fürchtet man eine allzu starke Vereinnahmung von Belarus durch Putin. Deshalb – und auch aus eigenem wirtschaftlichen Interesse – sah man Lukaschenko zuletzt so manches Demokratiedefizit nach, beendete frühere Sanktionen gegen sein Regime und öffnete ihm diplomatische Kanäle in die EU. Schließlich sollte der Machthaber in Minsk durch allzu laute Kritik nicht noch mehr in die Arme Moskaus getrieben werden.

Klar, dass bei dieser Gemengelage rhetorische Vorsicht geboten ist. Bei seinem Besuch in Minsk vor knapp eineinhalb Jahren setzte Kanzler Kurz explizit auf ein Sowohl-als-auch statt auf ein Entweder-oder: Belarus könne sich an die EU annähern, "ohne die traditionell guten Beziehungen zu Russland aufzugeben".

Keine zweite Ukraine

Eine Zerreißprobe, wie sie im Nachbarland Ukraine 2013/14 zur Maidan-Revolution und in weiterer Folge zum Krieg mit prorussischen Separatisten im Donbass und zur Annexion der Krim geführt hatte, will die EU im Fall von Belarus jedenfalls unbedingt vermeiden.

Dabei war die Ausgangslage in der Ukraine eine ganz andere: Während in Kiew gegen die Abkehr von einem geplanten Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union demonstriert wurde und sich geopolitische Spannungen zwischen den östlichen und den westlichen Landesteilen entluden, protestieren die Menschen im überwiegend russlandfreundlichen Belarus nun gegen Wahlbetrug im eigenen Land – und gegen einen Machthaber, der auf seiner Suche nach einem eigenständigen Weg oft genug auf Distanz zu Moskau gegangen ist.

Ist Belarus auf dem Weg eine Demokratie zu werden – und wie steht es um Demokratie und Freiheit in den ehemals kommunistischen Staaten Zentral- und Osteuropas? Darüber diskutierten bei "STANDARD mitreden" diese Woche Anton Pelinka, Karl Schwarzenberg und die Belarus-Expertin Petra Stykow.
DER STANDARD

Dennoch sehen sich westliche Politiker angesichts der aktuellen Situation erneut mit einer Grundfrage der internationalen Politik konfrontiert: Sollen demokratische Staaten autoritären Regimen mit dem Prinzip "Wandel durch Annäherung" begegnen, wie es einst der westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt mit seiner Ostpolitik versuchte? Oder sollen sie versuchen, ihnen mit Delegitimierung und Isolation zu begegnen, selbst um den Preis verhärteter Fronten und eines erhöhten Konfliktrisikos?

Zentrale Rolle Moskaus

Mit letzter Sicherheit lässt sich diese Frage nicht beantworten: Die heute gepriesenen "friedlichen Revolutionen" in Osteuropa 1989/90 sind wohl auf eine Kombination beider Ansätze zurückzuführen. Wichtigster Faktor für ihr Gelingen war die Haltung Moskaus, das sich damals aus den Transformationsprozessen heraushielt.

Versuche einer Demokratisierung gab es im Ostblock nämlich schon zuvor. Der Arbeiteraufstand 1953 in der DDR wurde ausgelöst durch eine Erhöhung der Arbeitsnorm – gleichbedeutend mit der Senkung der Löhne. Schnell aber gingen die Forderungen der Demonstranten darüber hinaus: Die streikenden Arbeiter wollten einen Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Stattdessen rollten sowjetische Panzer durch die Straßen, die den Aufstand niederschlugen.

Militärische Gewalt

Drei Jahre danach erhoben sich erst die Polen beim Posener Aufstand und dann die Ungarn gegen die "Diktatur des Proletariats". Den Aufständischen in Budapest gelang es sogar, eine Reformregierung unter Imre Nagy einzusetzen. Nachdem dieser den Austritt aus dem Warschauer Pakt verkündet hatte, machten sowjetische Truppen dem Volksaufstand ein schnelles Ende.Und obwohl später der Prager Frühling eher ein Reformversuch von oben war, der einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" schaffen sollte, wurde auch er mit militärischer Gewalt gestoppt – vor genau 52 Jahren, am 21. August 1968.

In Prag wurde am Freitag an die Niederschlagung des Prager Frühlings vor 52 Jahren erinnert.
Foto: EPA / Martin Divisek

Erst in den 1980er-Jahren konnten die Umbrüche gelingen, da Moskau – aus rationalen und auch aus ideologischen Gründen – seinen Hegemonialanspruch in Osteuropa zurücknahm. Es war eben nicht nur die wirtschaftliche Schwäche nach jahrzehntelanger Planwirtschaft und einem erschöpfenden Wettrüsten, die den Kreml zum Stillhalten bewegte.

Einen wichtigen Beitrag leistete auch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975, wo sich alle beteiligten Staaten zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, aber auch zur Wahrung von Freiheit und Menschenrechten verpflichteten. Sie gab den Anstoß für die Bildung zahlreicher Bürgerrechtsorganisationen, die am Ende den friedlichen Übergangsprozess verwirklichten.

Keine Abschottung mehr

Gewisse Parallelen gibt es zur heutigen Situation in Belarus. Die von Lukaschenko betriebene politische und gesellschaftliche Abschottung lässt sich im 21. Jahrhundert nicht durchsetzen. Trotz aller Beschränkungen funktioniert in Belarus das Internet, und auch die Bürger sind mobiler als früher. Sie reisen und arbeiten – viele in Russland, aber dank Visaerleichterungen sind es auch in den EU-Ländern inzwischen über 100.000. Sie können vergleichen und sind damit für die staatliche Propaganda weniger empfänglich.

Auch diesmal wird viel von der Position Moskaus abhängen. Putin, der den Zusammenbruch der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat, sieht Russland wieder als Großmacht und beansprucht zumindest ein Mitspracherecht beim strategischen Partner.

Daher ist ein friedlicher Machttransfer in Belarus wohl nur zu erreichen, wenn die EU einerseits deutlich macht, dass eine Einmischung mittels hybrider Kriegsführung zur Rettung der Wahlfarce gravierende Konsequenzen hat – und wenn es ihr andererseits gelingt, Russland die Angst zu nehmen, dass mit dem Ende Lukaschenkos auch die Partnerschaft zwischen Russland und Belarus zu Ende geht.

Die Präsidentschaftswahl am 9. August will Alexander Lukaschenko erneut gewonnen haben – offiziell mit 80 Prozent. Seither wird im ganzen Land gegen Wahlbetrug protestiert. (André Balin aus Moskau, Gerald Schubert, 22.8.2020)