Optische Rundumerneuerung für den mondänen Spionagethriller: John David Washington mit Elizabeth Debicki in James-Bond-Pose.

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Eine kleine Zeitreise vorab. Im Jahr 1977 nahm James Nolan seinen siebenjährigen Sohn mit ins Kino, um das zehnte James-Bond-Abenteuer Der Spion, der mich liebte zu besuchen. Die mondäne Selbstsicherheit des Agenten, die exotischen Schauplätze, die gewaltigen Bauten von Ken Adam, all das begeisterte den Buben über jedes Maß und verdichtete sich zum Sinnbild der Möglichkeiten des Kinos selbst. Noch im selben Jahr begann er, mit der Super-8-Kamera seines Vaters Filme mit seinen Actionfiguren zu drehen.

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Christopher Nolan erzählte diese Anekdote Mitte der Woche bei einer virtuellen Pressekonferenz, die von Los Angeles aus in die Welt gesendet wurde. Unwillkürlich dachte man da an den Schlitten Rosebud, dem Bild einer entschwundenen Kindheit in Orson Welles Citizen Kane. Nolan freilich, vielleicht der Starregisseur der Gegenwart, hält mittlerweile alle Fäden in der Hand, um seine Begeisterung für die Illusionskraft des Films mit seinem Publikum zu teilen.

Das einzige Problem hieß Corona, das Virus, das Tenet, die spektakuläre Aneignung des Agententhrillers, in ein unerwartetes Zeitloch stürzte. Schon zu so etwas wie einem Heilsbringer stilisiert, der das Kino aus dem Tiefschlaf reißt, startet der Film nun kommende Woche in Europa, noch vor den USA. Der Regisseur, ein vehementer Kämpfer für die Rettung des Films als Trägermaterial, trat auch entschlossen für die Unterstützung der angeschlagenen Kinos ein.

Entlang zweier Zeitebenen

Auch ein wesentlicher Teil der Faszination von Tenet liegt in der Liebe zum Film als Medium, mit dem sich die "Wirklichkeit" nach Lust und Laune verformen lässt. So gut wie gar nicht computergeneriert, verdankt sich die Wucht der Actionschaustücke mehr dem Zusammenspiel von Nolans intensiven szenischen Choreografien, dem drängenden, sirenenhaften Score von Ludwig Göransson und einer Montage, die gleichsam zwei Zeitvektoren berücksichtigen muss.

Denn Tenet ist nicht nur einfach eine erstaunlich klassische Reverenz an den Spionagethriller à la Bond, sondern zugleich auch ein Nolan’sches Mindgame-Movie. Die Zeit selbst wird manipuliert, ausgesuchte Protagonisten vermögen sich rückwärts durch die Handlung zu bewegen, während andere Objekte normal vorwärtslaufen – mit all den schwindelmachenden Paradoxien, die ein solches Unterfangen mit sich bringt. Als wichtigste Inspiration nannte Nolan allerdings keinen Philosophen, sondern den niederländischen Künstler M. C. Escher, der auch Wahrnehmungsillusionen entworfen hat, die Knoten im Gehirn hervorrufen können.

Redselig

Nolan-Kenner wissen, dass das Spiel mit Erinnerung und Zeitverschiebungen in seinem Werk von Memento (2000) bis Interstellar (2014) eine wichtige Rolle spielt. Seine Filme stehen mit linearen Plots auf Kriegsfuß, ihre Handlungen falten sich zu kunstvollen Origami, sodass man in Tenet immer erahnen muss, was schon passiert sein wird. Etwa wenn eine erste, noch eher harmlose Pistolenkugel wieder in die Trommel fliegt.

Der Nachteil, dem der Thriller aus seiner Komplexität erwächst, lässt sich allerdings auch schnell benennen: Er gerät redebedürftig, weil er sich immer wieder selbst erklären will. John David Washington hat als "der Protagonist" zwar beide Hände voll zu tun, behält aber eben nur zum Teil die Übersicht: Als Held muss er gewissermaßen um seine Rolle als treibende Kraft rittern, was er mit heiterer Gelassenheit vollbringt. Ihm zur Seite steht Robert Pattinsons Neil als assistierende Kraft zur Seite, der immer im richtigen Moment ein Detail mehr weiß als er selbst (und der Zuschauer). Drittes Glied in der Kette bildet Kat (Elizabeth Debicki), die unterdrückte, aber gleichwohl renitente Frau des Gegenspielers Sator (Kenneth Branagh), eines russischen Oligarchen mit sämtlichen stereotypen Eigenschaften.

Keine Genre-Neuerfindung

Nolan will die Agentenwelt nicht neu erfinden, er will sie vielmehr mit der Kenntnis und dem Vermögen eines 50-Jährigen, der sich das Staunen des Siebenjährigen bewahrt hat, neu zusammensetzen. Der übergeordnete Plot von einem nahen Ende der Welt, das mit ungesichertem Plutonium und übersteigerten Narzissmus zu tun hat – mehr muss man gar nicht wissen –, ist ein MacGuffin (wie schon der Titel), ein Vorwand, um sich wie in einer der surrealen Grafiken von Escher richtig auszutoben.

Die Szenen sind so entworfen, dass Aufwand vor Zweckdienlichkeit geht – man hätte sie bei Wetten, dass ..? einreichen können. Auf Häuser springt man mit dem Bungee-Jumping-Seil, um in ein hochgesichertes Warendepot einzudringen, hijackt man eine Boeing 747 (noch so ein Prachtstück aus einer anderen Ära), Transportvehikel werden mit einer aufwendigen Lkw-Formation eingekesselt.

Nolan hat nicht umsonst schon einen Film der Zauberei gewidmet (Prestige, 2006) – und er macht es sich mit all dem analogen Material keineswegs leicht. Dennoch überzeugen in Tenet mehr die bravourösen Teilstücke, die der Film bisweilen aus zwei (zeitlichen) Richtungen abfährt, als die ganze Show. Nolan poliert alte Schauwerte auf, befreit manche Figur vom Staub der Vergangenheit, fügt dem Genre aber nur an der Oberfläche etwas hinzu: ein Stück vorwärts, eines rückwärts. (Dominik Kamalzadeh, 22.8.2020)