Die frühere Englisch-Lehrerin Swetlana Tichanowskaja hatte anstelle ihres Ehemannes kandidiert, nachdem der regierungskritische Blogger im Mai festgenommen worden war.

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Minsk/Washington – Die belarussische Bevölkerung wird sich aus Sicht der Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja nicht auf einen Kompromiss einlassen, solange der autoritär regierende Staatschef Alexander Lukaschenko im Amt bleibt. Die Belarussen würden Lukaschenko "niemals" als Präsidenten akzeptieren, sagte Tichanowskaja am Freitag bei ihrer ersten Pressekonferenz seit ihrer Flucht nach Litauen. Die Belarussen wollten einen politischen Wandel. Lukaschenko beschuldigte unterdessen das Ausland, hinter den Massenprotesten in seinem Land zu stecken.

Frühere Englischlehrerin will nicht mehr kandidieren

"Ich hoffe, dass der gesunde Menschenverstand überwiegt und der Ruf der Menschen gehört wird, damit es Neuwahlen geben kann", sagte Tichanowskaja. Die Menschen in Belarus würden die Gewalt, die sie erlebt hätten, "nie verzeihen und nie vergessen". Alle Belarussen lebten in Angst. "Doch wir müssen all unsere Ängste überwinden und weitere Schritte gehen", forderte die Oppositionspolitikerin.

Die Oppositionsführerin will bei einer Neuwahl nicht als Kandidatin für das Präsidentschaftsamt antreten. "Ich plane nicht, selber ins Rennen zu gehen", sagte Tichanowskaja der Agentur Tass. Auch ihr Ehemann sei nicht interessiert. Die frühere Englischlehrerin hatte anstelle ihres Ehemannes kandidiert, nachdem der regierungskritische Blogger im Mai festgenommen worden war. Zu Wochenbeginn hatte Tichanowskaja noch ihre Bereitschaft zur Machtübernahme signalisiert.

EU erkennt Wahlsieg nicht an

Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 9. August gibt es in Belarus Massenproteste gegen den laut offiziellem Wahlergebnis mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählten Lukaschenko. Die Protestbewegung wirft dem seit 26 Jahren autoritär regierenden Staatschef massiven Wahlbetrug vor.

Die Sicherheitskräfte gingen mit teils brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vor. Tausende Menschen wurden vorübergehend festgenommen. Viele berichteten nach ihrer Freilassung von Folter und Misshandlung im Polizeigewahrsam. Drei Menschen starben während der Proteste. Wegen der Gewalt gegen friedliche Demonstranten hatten die EU-Außenminister vergangene Woche neue Sanktionen gegen die belarussische Führung auf den Weg gebracht. Lukaschenkos Wahlsieg erkannte die EU nicht an.

Demonstranten bildeten eine Menschenkette hin zu einem Gefängnis, in dem viele Oppositionelle inhaftiert sind.
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Auch am Freitag protestierten in der Hauptstadt Minsk wieder tausende Menschen gegen die Regierung. Zwischen dem Mahnmal für die Opfer des Stalinismus und dem Okrestina-Gefängnis, in dem viele Oppositionelle inhaftiert sind, bildeten die Demonstranten eine Menschenkette. Sie hielten Flaggen, Blumen und Bilder von verletzten Regierungskritikern in die Höhe.

Lukaschenko warnt vor Polen

Lukaschenko drohte einem Medienbericht zufolge mit der Schließung von Fabriken, deren Arbeiter sich den landesweiten Protesten gegen seine umstrittene Wiederwahl angeschlossen haben. Auch eine Entlassung der jeweiligen Arbeiter sei möglich, habe Lukaschenko angedeutet. "Wenn eine Fabrik nicht arbeitet, dann lasst uns ab Montag ein Schloss an ihrem Tor anbringen", sagte er laut der russischen Nachrichtenagentur RIA am Samstag bei einem Besuch in Grodno nahe der Grenze zu Polen. "Die Leute werden sich beruhigen." Und man könne entscheiden, wer wieder zur Arbeit eingeladen werde.

Bei einem Militärbesuch warnte Lukaschenko vor einer Revolution im Land. Es werde vom Ausland versucht, Belarus eine Revolution aufzuzwingen, sagte Lukaschenko am Samstag nach Landung auf einem Truppenübungsplatz in der Nähe von Grodno. Es müssten die "härtesten Maßnahmen" getroffen werden, sagte der Staatschef in Uniform, um die Einheit des Landes zu bewahren.

Lukaschenko behauptete, dass es eine Gefahr vom Westen – vom EU-Land Polen – und von der NATO gebe, sich die Region mit dem Zentrum Grodno einzuverleiben. In der Region wehten schon polnische Flaggen, meinte er. "Das Vaterland ist in Gefahr", hatte er am Freitag gesagt. Er beschuldigte die USA, die Demonstrationen in Belarus zu "planen und zu bezahlen". Die Europäer würden "das Spiel mitspielen". Ziel des Westens sei es, Belarus in eine "Pufferzone" zwischen den baltischen Staaten und Russland zu verwandeln. Kritiker werfen ihm vor, grundlos Spannungen zu schüren und die "militärische Karte" zu spielen, um von der schweren innenpolitischen Krise im Land abzulenken.

Ermittlungen gegen oppositionellen Koordinierungsrat

Der belarussische Außenminister Wladimir Makei, der am Donnerstag die "Notwendigkeit zum Wandel" in seinem Land hervorgehoben hatte, appellierte am Freitag an seine europäischen Amtskollegen, auf die Verhängung von Sanktionen zu verzichten. "Wir haben zur Zeit eine schwierige Situation, aber welches Land hat nicht schmerzhafte Zeiten der nationalen Entwicklung durchgemacht?", schrieb er in einem Brief an die EU-Außenminister. Seine Regierung könne "Aktionen, welche die Souveränität der Republik von Belarus schaden", nicht zulassen.

Die belarussische Justiz hatte am Donnerstag strafrechtliche Ermittlungen gegen den von der Opposition gegründeten Koordinierungsrat eingeleitet, der einen friedlichen Wechsel der politischen Führung in Belarus erreichen soll. Nach Angaben der Behörden verstößt der Rat gegen die Verfassung. Am Freitag wurde der Anwalt Maxim Snak, der Mitglied des Rates ist, von den Behörden in Minsk verhört. Snak seinerseits brachte beim obersten Gericht einen Antrag auf Annullierung der Präsidentschaftswahl ein, wie Tichanowskajas Sprecherin Anna Krasoulina mitteilte.

Vereinte Nationen "ernsthaft besorgt"

Die EU verurteilte das juristische Vorgehen der Behörden in Belarus. Die Ermittlungen gegen den Koordinierungsrat müssten eingestellt werden, sagte eine Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Sie warf der Regierung in Minsk eine "Einschüchterung" ihrer Kritiker vor.

Die Vereinten Nationen äußerten sich am Freitag ebenfalls "ernsthaft besorgt" angesichts der andauernden Inhaftierung von mehr als hundert Demonstranten. Die Behörden müssten "sofort" alle Menschen freilassen, die "unrechtmäßig oder willkürlich inhaftiert wurden", erklärte eine Sprecherin der UN-Menschenrechtskommissarin.

Der stellvertretende US-Außenminister Stephen Biegun wird nach Angaben von Insidern demnächst nach Russland und Litauen fliegen, um dort über die Lage in Weißrussland (Belarus) zu beraten. Mit seiner Abreise werde in den kommenden Tagen gerechnet, hieß es am Freitag. Die Visite weist darauf hin, dass die USA eine größere Rolle bei der Suche nach einer friedlichen Lösung für Belarus übernehmen wollen. Ein Ziel der USA ist es, ein Eingreifen Russlands zu verhindern. (APA, red, 22.8.2020)