Nizza – Sprintende Fans im Borat-Einteiler auf Tuchfühlung zu Emanuel Buchmann und Co., Alpen-Anstiege auf schmalem Pfad durch Menschenmassen, Zehntausende Feierwütige mit Klatschpappen am Zielraum: Der ganz normale Irrsinn einer Tour de France wird in Corona-Zeiten zum Tabu. Ein beispielloser Aufwand soll die am Samstag in Nizza beginnende Frankreich-Rundfahrt seuchensicher machen – ein unbeschwertes Freudenfest wird die Tour diesmal nicht.

Die Tour ruft.
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"Die Stimmung wird anders, nicht so ausgelassen wie gewohnt. Schade, aber wir müssen froh sein, dass die Tour überhaupt stattfindet", sagte Deutschlands Top-Rundfahrer Buchmann. Auch er weiß: Strikteste Sicherheitsmaßnahmen sind unabdingbar, schwebt bei positiven Tests in den Teams doch das Damoklesschwert des ersten Abbruchs in 117 Jahren über der Tour.

"Corona bringt Schreckensszenario"

Mehr noch: Zwei oder mehr Coronafälle binnen sieben Tagen in einem Team, so hat es Tour-Veranstalter ASO festgelegt, führen zum Ausschluss der betreffenden Mannschaft. Im Extremfall könnte der Mann im Gelben Trikot am letzten Tag aus dem Rennen genommen werden, wenn auch nur ein Mechaniker und ein Masseur seiner Equipe infiziert sind.

"Die Blase muss so sauber bleiben wie möglich", zeigte Iwan Spekenbrink, Teammanager der Sunweb-Mannschaft, Verständnis: "Wenn das nicht klappt, wird Frankreichs Regierung das Event stilllegen." Wenn sein Team nach ein paar Tagen nach Hause geschickt würde, "kann ich mich natürlich ärgern. Aber wenn man nicht so handelt, erreicht die Tour nie Paris."

Alles eingerichtet

Die Lage in Frankreich ist prekär, täglich 4500 Neuinfektionen meldeten die Behörden zuletzt. Am 14. März, als Paris-Nizza abgebrochen wurde, waren es keine 900. ASO-Boss Christian Prudhomme ist dennoch zuversichtlich: "Alles ist eingerichtet, damit es gut läuft."

Für Fahrer und Teams gelten knapp vier Wochen lang strengste Regeln. In den Hotels bilden sie Blasen, sind auf getrennten Hotel-Etagen untergebracht, speisen in separaten Räumen. Alle Teammitglieder werden regelmäßig getestet, Kontakt zu Medien ist minimiert, der zu Zuschauern findet möglichst nicht statt.

Schafft es die Tour bis Paris?
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Weniger schöne Party

Ein Großteil des Maßnahmenpakets betrifft eben jene Fans, deren Zahl bei einer Tour gewöhnlich zehn Millionen übersteigt. In Nizza sind 500 ausgeloste Fans im Start- und Zielbereich zugelassen, die Teampräsentation auf der Place Massena dürfen 1500 Zuschauer sitzend verfolgen – Frankreichs Großveranstaltungslimit liegt bei 5000 Personen.

An neuralgischen Tour-Punkten werden deshalb Zugangskontrollen eingerichtet, Wohnmobile sind am Berg verboten, nur Fußgänger und Rad zugelassen. Die beliebte Werbekarawane wird halbiert, Fans haben diesmal keinen Zugang zum Teambus-Bereich, Autogramme und Selfies sind untersagt. Masken am Streckenrand schreibt laut Prudhomme "gesunder Menschenverstand" vor: "Die Party wird etwas weniger schön als sonst werden, aber unter den Masken dennoch stattfinden."

Masken an der Strecke

Den Ernstfall konnte Prudhomme nur im Kleinen proben lassen, die Tour-Dimensionen sind nicht simulierbar. Klassikerstar John Degenkolb nimmt dennoch die ASO in die Pflicht. "Man macht sich Gedanken über mögliche Spätfolgen einer Covid-Infektion", sagte der Deutsche der Sport Bild: "Wir wollen keine Versuchskaninchen sein."

Dass Zweifel durchaus berechtigt sind, zeigte Mitte August die deutlich kleinere, auch von der ASO veranstaltete Dauphine-Rundfahrt. Mehrere Fahrer beschwerten sich, dass viele Fans auf Sicherheitsgebote pfiffen. "An Start und Ziel haben die Fans Masken getragen, an den Anstiegen waren die meisten ohne", sagte der irische Sunweb-Profi Nicholas Roche: "So etwas sollte zur Tour in Ordnung gebracht werden." (sid, 23.8.2020)