Im Würgegriff des Mammon (Christoph Franken peinigt Tobias Moretti): Seit jeher war der "Jedermann" die Ertragsperle der Salzburger Festspiele.

APA / Barbara Gindl

Brandauer mit Glockengeläut, Obonya im Bierkeller, Hochmair ausnahmsweise einmal nur oben ohne: Der Samstag gehörte in Salzburg den Jedermännern. Und das von zehn Uhr am Vormittag, als Nikolaus Ofczarek auf der Riesenleinwand auf dem Kapitelplatz in Großaufnahme erschien, bis elf Uhr am Abend, als sich im Festspielhaus der aktuelle Jedermann Tobias Moretti vor der falschen Domfassade verbeugte.

In der Innenstadt wurden Nachdrucke des Stücks von Hugo von Hofmannsthal verteilt, die Präsidentin begleitete auf Facebook durch den Tag, und zu den Jedermännern gesellten sich in Gestalt von Frank-Walter Steinmeier (D) und Alexander Van der Bellen (A) zwei leibhaftige Staatsmänner. Nur die erforderliche Jubelstimmung, die wollte dank Sicherheitsabständen und Maskenpflicht nicht wirklich aufkommen. Die ganze Stadt als Bühne – das war Max Reinhardts Konzept für den Jedermann, und genau so hätte auch der 100. Geburtstag seiner Erstaufführung auf dem Salzburger Domplatz gefeiert werden sollen.

Von der großen Bühne blieben immerhin einige kleine Podien und Wirtshaustische unterm Herrgottswinkel übrig, auf denen die Jedermänner zu ihren Lesungen auch einmal den Teufel (Moretti mit Halbbruder Gregor Bloéb) oder die Buhlschaft mitbrachten.

Letzteres war dem einsamen Rekordhalter Peter Simonischek (91 Aufführungen!) vorbehalten, der die Erinnerungen von Witwe Helene Thimig an Max Reinhardt gemeinsam mit Veronica Ferres vortrug. Ein Jedermann-Tag ohne Buhlschaften, das wäre wirklich nicht gegangen. Corona hin oder her.

Mit dem Segen des Erzbischofs

Das Virus hat die Feierlichkeiten zur Geburtsstunde der Festspiele ja ohnehin arg schrumpfen lassen. Am 22. August im Jahre 1920 hallten das erste Mal die Jedermann-Rufe durch die verwinkelten Gassen der Altstadt und der erste Jedermann-Darsteller, der Schauspieler Alexander Moissi, versuchte, mit dem Segen des Salzburger Erzbischofs dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Doch daraus wurde nichts, genauso wenig wie die 725 darauffolgende Male. So oft wurde Hofmannsthals Stück bereits bei den Festspielen aufgeführt, wie Präsidentin Helga Rabl-Stadler an diesem Tag mehrmals zu berichten wusste. Dass die Qualität der Inszenierungen in den allermeisten Fällen kein Grund zum Jubeln war, das verschwieg sie lieber – schließlich brachten die Aufführungen auf dem Domplatz jede Menge Mammon in die Säckel der Festspielmacher. Und den brauchten sie für ihre anderen, zumeist weit gelungeneren Unternehmungen.

Inszenierung feinjustiert

Wobei: Zu seinem Hundertsten muss sich der aktuelle Jedermann nicht verstecken, auch wenn er diesmal wetterbedingt vom Domplatz ins Festspielhaus übersiedeln musste. Denn was der Regisseur Michael Sturminger aus dem "Spiel vom Sterben des reichen Mannes" gemacht und wie er die Inszenierung zum Jubiläum noch einmal feinjustiert hat, das stellt das Gros der Sommertheater weit in den Schatten. Wobei man das Wort "Sommertheater" in Salzburg nur unter Androhung von Sensenhieben in den Mund nehmen darf. Der Jedermann, so die offizielle Sprachregelung, ist ein "Theaterphänomen".

Um dieses in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, arrangierte Theaterchefin Bettina Hering zur Mittagsstunde eine kluge Lesung. Elisabeth Orth, einst die Personifizierung des Glaubens, las in der Felsenreitschule Texte von Hofmannsthal, der die kollektive Psyche nach dem Ende des Ersten Weltkriegs analysierte, bis hin zu Berta Zuckerkandl, die vom Missbrauch des Dirigenten Arturo Toscanini durch die Nazis zu berichten wusste.

Die Salzburger Festspiele und mit ihnen der Jedermann waren auch immer ein Politikum, im Entstehungsjahr 1920 genauso wie unter der Nazidiktatur bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit. "Wir wollten – wir mussten spielen", sagte Präsidentin Helga Rabl-Stadler zu den heurigen Schrumpf-Festspielen vor der abendlichen Jubelschar.

Der Jedermann-Tag stand immer im Zentrum aller Überlegungen der Festspielmacher. Mit Kompromissen ist er jetzt über die Bühne gegangen. Nicht über die große, sondern über einige kleine. Aber immerhin. (Stephan Hilpold, 24.8.2020)